Militärforschung
  Explosion in russischer Raketenfabrik
 

Explosion in russischer Raketenfabrik

Gerhard Piper

9. Februar 2024

In der Maschinenbaufabrik „Akzionernoe Obshestvo Votkinskiy zavod“ in Wotkinsk (Republik Udmurtien) hat sich am 7. Februar 2024 erneut eine Explosion ereignet. Der Rüstungsbetrieb stellt u. a. Kurzstreckenraketen der Typen Iskander-M (NATO-Code: SS-26 STONE-B) und Totschka-U (NATO-Code: SS-21 SCARAB) für die russischen Streitkräfte her. Beide Raketentypen werden derzeit gegen die Ukraine eingesetzt.

Test, Unfall oder Sabotage?

Nach offizieller Darstellung handelte es sich weder um einen Unfall noch um einen Sabotageakt. Vielmehr habe sich eine schwere Explosion bei einem „planmäßigen Test“ eines Raketentriebwerks ereignet. Allerdings war für den 7. Februar überhaupt kein Raketentest vorab angekündigt worden. Nähere Angaben zu der Explosion wurden nicht gemacht. Augenzeugen berichteten, dass ein großer Feuerball über dem Fabrikgelände aufgestiegen sei. (1)

Wotkinsk ist eine Industriestandort mit ca. 100.000 Einwohnern rund 1.000 km östlich von Moskau. Das Werk wurde bereits 1759 als Hammerwerk gegründet. Die Fabrik befindet sich in der Kirowstraße 2 und verfügt über 23 Werkstätten. Leitender Direktor der Fabrik ist/war Igor Yurevich Churbanov (Stand: 2020), Chefingenieur war früher Yuriy Cherkov.

Es ist nicht das erste Mal, dass es auf dem Fabrikgelände zu einer Explosion gekommen ist. Der letzte derartige Vorfall ereignete sich am 4. August 2023 in der Fabrikhalle Nr. 95.

Produkt: Kurzstreckenraketen

Zu den Produkten, die die "Maschinenfabrik" herstellt, gehören mehrere Kurzstreckenraketen:

- 9K723 Iskander-M
(NATO-Code: SS-26 STONE-B): Diese Boden-Boden-Raketen wurden vom Konstruktionsbüros „KB Maschinostrojenija“ in Kolomna entwickelt. Die Fabrik in Wotkinsk ist seit 2006 an der Produktion der Flugkörper beteiligt. Die Raketen haben eine Länge von 7,28 m bei einem Durchmesser von 91,4 cm. Sie haben eine Reichweite von ca. 500 km, eventuell auch 600 km. Der Flugkörper ist i. d. R. mit einem Atomsprengkopf bestückt: AA-75, AA-86 (9N70) mit einer variablen Sprengleistung von 5 bis 50 KT, oder AA-92 (100 bis 200 KT). Alternativ kann die Rakete mit einem konventionellen Streubombengefechtskopf N722K oder 9N722F beladen werden. Die Treffgenauigkeit beträgt 30 bis 100 m. Das System ist auf dem geländegängigen Lastkraftwagen MSKT-7930 (8 x 8 ) untergebracht.

Mit dem Raketensystem ist heute u. a. die 152. Garde Raketenbrigade in Chernyakhovsk in der Enklave Kaliningrad ausgerüstet. Die Flugkörper dieses Verbandes zielen auf Ostdeutschland. Eine Iskander-Raketenbrigade verfügt i. d. R. über zwölf nachladbare Werferfahrzeuge und zwölf Transportfahrzeuge. (2)

- 9K79-1 Totschka-U: Die Totschka hat eine Länge von ungefähr 6,4 m bei einem Durchmesser von 0,65 m. Die zweite Serienversion der Totschka wurde ab 1987/89 eingeführt. Die Rakete hat eine verlängerte Reichweite von 120 km. Die Raketen vom Typ 9M79 besitzen u. a. einen Nukleargefechtskopf der vierten Generation 9N39 und 9N64 jeweils mit einer Ladung AA-60 (10 bis 100 KT oder gar 250 KT); die Raketen vom Typ 9M79B1 sind mit einem Gefechtskopf 9N64 in Kombination mit einer Nuklearladung AA-86 (5 bis 50 KT oder 200 bis 250 KT) oder mit einer Nuklearladung AA-92 (100 bis 250 KT) oder mit einer Nuklearladung AA-95 (300 KT) bestückt. Hinzu kamen zwei Versionen mit chemischen Kampfstoffen: 9N123G (VX) und 9N123G2-1 (Soman). Zum Flugkörpersystem gehört ein Werferfahrzeug 9P129 (mehrere Varianten) und ein Kontroll- und Prüffahrzeug AKIM 9W819. Jeder Werfer ist mit zwei Flugkörpern bestückt, die im Abstand von 40 Sekunden verschossen werden können. Der Typ war u. a. in der DDR disloziert. Jede Raketenbrigade umfasst drei bis vier Raketenabteilungen.

Neben den beiden genannten Raketen wurden in Wotkinsk auch Bauteile für andere Raketentypen gefertigt. In den siebziger Jahren produzierte die Fabrik die Mittelstreckenrakete RSD-10 Pionier-K (NATO-Code: SS-20 Mod.1 SABER), in den achtziger Jahren folgte die Kurzstreckenrakete R-400 Oka (NATO-Code: SS-23 SPIDER). Das Unternehmen fertigt auch die Interkontinentalraketen 15Sch65 des Raketensystems RS-12M2 Topol-M (NATO-Code: SS-27 SICKLE-B).

Einsatz in der Ukraine

Beim russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 starteten die Streitkräfte Russlands am ersten Kriegstag 63 9M723-Raketen gegen 33 Ziele in der Ukraine. Schätzungen zufolge starteten die Streitkräfte Russlands bis Ende 2022 - je nach Quelle – 124 bis 750 Iskander gegen Ziele in der Ukraine. Auch die ukrainischen Streitkräfte verschossen Iskander, die noch aus ihrem Raketenbestand zu Sowjetzeiten stammten. (3)

Die russischen Streitkräfte setzten auch die Totschka-U wiederholt ein: So beschossen sie am 8. April 2022 den Bahnhof von Kramatorsk mit zwei Flugkörper mit Splittergefechtsköpfen vom Typ mit 9N123F. Dieser Angriff forderte 57 Tote und 109 Verletzte. (4)

Mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 stieg der Bedarf an Kurzstreckenraketen enorm. Es ist daher anzunehmen, dass die Produktion der Fabrik entsprechend gesteigert wurde. Ob dies eine Ursache für die Explosion war, lässt sich nicht beurteilen. Mit Beginn des Ukrainekrieges verhängten die U.S.-Regierung am 2. Juni 2022 (5) und die EU am 16. Dezember 2022) (6) ein Embargo gegen den Betrieb.

Quellen:

(1) https://www.ksta.de/panorama/russland-gewaltige-explosion-erschuettert-atomwaffen-fabrik-734937

(2) https://www.milfors.de/Verlegung-von-Nukleareinheiten.htm

(3) https://de.wikipedia.org/wiki/9K720#Russischer_%C3%9Cberfall_auf_die_Ukraine_2022

(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Angriff_auf_den_Bahnhof_von_Kramatorsk

(5) https://ofac.treasury.gov/recent-actions/20230224

(6) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32023D1217