Militärforschung
  Rockall: Zum zweiten Mal Entführungsopfer islamistischer Piraten
 

Rockall: Zum 2. Mal Entführungsopfer islamistischer Piraten -

Zur Staatshilfe im Entführungsfall

Gerhard Piper

7. November 2016

Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt darin um“, heißt ein bekannter Aphorismus des linken Liedermachers Wolf Biermann. Aber manchmal kommen auch Leute um, weil sie die Risiken falsch eingeschätzt und sich in Gefahr begeben haben. So erging es der Seglerin und Globetrotterin Sabine Merz (59), die am 4. November 2016 von Terroristen der islamistischen Abu Sayyaf ermordet wurde. Sie stammte aus Berlin, hatte aber später im schwäbischen Neuhausen gelebt. Es war bereits das zweite Mal, dass sie von islamistischen Piraten entführt wurde – zuerst in Somalia, jetzt vor der philippinen Küste.

Erste Entführung vor Somalia 2008

Am 19. Juni 2008 segelte Jürgen Kantner mit seiner Lebensgefährtin Sabine Merz im jemenitischen Aden los, um den Pazifik in Richtung Thailand zu überqueren. Am 21. Juni 2008 kreuzten die beiden Skipper 15 Meilen vor der jemenitischen Küste. Die beiden Globetrotter segelten seit Jahren mit ihrer 16-Meter-Jacht „Rockall“ rund um den Globus und hatten sicherlich viel erlebt. Diesmal hatten sie kein Glück. Ein vermeintliches Fischerboot tauchte auf, setzte zwei Schnellboote ab und jagte die Segeljacht. Mehrere bewaffnete somalische Piraten entführten die beiden Deutschen. Über den ersten Tag ihrer Entführung notierte Sabine Merz in ihrem Tagebuch:

Wir haben gerade die Genua repariert, als wir zwei Motoren hörten, die näher kamen. Es preschten zwei Boote mit Außenborder auf uns zu mit Männern. Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, wurde geschossen. Sie sprangen sofort an Bord und schossen wieder. Es waren ca 7 bis 9 Männer, schwer bewaffnet. Sie sagten nicht gleich, was sie wollten, durchsuchten das Boot und wollten essen. Später sagten sie, wir müssen nach Somalia mitkommen. Jürgen erklärte ihnen, es geht nicht. Kein Wind und der Motor ist defekt. Sie glaubten uns nicht. Dann sagten sie, sie bleiben bis zum Abend und wenn ein Cargoboot kommt, gehen sie weg. Zwischendurch wurde immer wieder geschossen. Am Abend forderten sie, der Motor müsse angemacht werden, mit Segeln gehe es zu langsam. Wir gaben Erklärungen, es sei nicht möglich.

Jürgen ging unter Deck und blieb im Luk stehen, so dass die Kidnapper nicht rein konnten. Dann zielten die Kidnapper auf Jürgen und wollten ihn erschießen. Ich stellte mich vor ihn, erklärte, sie sollen uns zwei erschießen. Dann versuchten sie Jürgen an Deck zu ziehen, legten ihm einen Strick um den Hals, den ich verzweifelt entfernte. Jetzt wurde ich gepackt und brutal an Deck gezerrt, geschlagen und in ihr Boot geworfen. Ich wehrte mich verzweifelt, aber ohne Erfolg. Jürgen hielten sie unter Deck fest. Dann sah ich ein Cargoboot, aber kein Interesse. Dann durfte ich wieder an Bord der Rockall. Die Situation entspannte sich jetzt ein wenig. Wir gingen in unsere Koje und versuchten zu schlafen.“ (www.tagesspiegel.de/weltspiegel/von-piraten-gekidnappt-tagebuch-einer-entfuehrung/1400998.html)

In gleicher Weise berichtete später Jürgen Kantner über die Entführung:

I tell them my diesel don't work. And fix it so it won't. They try but can't start the engine. I know there are many warships all around us. For two and a half days, we sit there drifting, a yacht with the pirate mother ship and two large, fast boats being towed astern. I think for sure that one of the Western coalition ships will see us, but this didn't happen. On the third day, they begin towing us toward Somalia. I think they're fools. Surely, we'll be rescued as they tow us across the wide safety lanes demarcated by NATO and the Horn of Africa naval forces. But the pirates don't seem in the least worried-they're having too much fun looting the boat. Then we see the coast of Somaliland and know we're in for a long, long ordeal." (www.fattygoodlander.com/pirates/rockall_captured)

Erst nach 50 Tagen kamen die beiden Geiseln am 9. August 2008 nach einer Zahlung von 592.000 US-Dollar Lösegeld wieder frei. Die Bundesregierung forderte damals von den Ex-Geiseln 52.000 US-Dollar zurück - die Kosten für den Rücktransport nach Deutschland in einem Privatflugzeug. In Deutschland wurden die beiden Ex-Geiseln tagelang vom Bundeskriminalamt befragt. In den Verhören unterstellten die Kriminalbeamten, die beiden Skipper hätten den Entführungsfall nur vorgetäuscht, um mit den Piraten gemeinsame Sache zu machen. Dabei waren beide Ex-Geiseln traumatisiert, wie der „Tagesspiegel“ nach einem Besuch bei Sabine Merz berichtete:

Sabine Merz zittert, wenn sie nach ihrer Tasse greift, sie weint, wenn sie im Tagebuch blättert. Von Ärzten und Psychologen erzählt sie, von Angstträumen und starken Medikamenten, auch vom Angebot, eine Klinik für Traumaopfer aufzusuchen, aber es sei zu früh, „da fühle ich mich wieder der Freiheit beraubt“. Sie ist krankgeschrieben, seit langem schon, bekommt wenigstens Arbeitslosengeld. Sie fühlt die Häme der Leute; da ist eine ausgebrochen aus der schwäbischen Provinz und nun heißt es: Das hat sie davon! Sie sagt, „keiner hilft uns“. Sie geht nun häufiger in die Kirche, das gebe ihr Halt. (…) „Wenn ich aus diesem Ort noch einmal wegkomme“, sagt Frau Merz leise, „will ich nie wieder zurück.“ (www.tagesspiegel.de/weltspiegel/von-piraten-gekidnappt-tagebuch-einer-entfuehrung/1400998.html)

Im folgenden Jahr kehrten sie nach Berbera (Somaliland) zurück, um ihre beschädigte Jacht zu reparieren. Am 17. Juli 2009 starteten sie ihren nächsten Trip in Richtung Malaysia. Jürgen Kantner erklärte damals in einem Interview mit „AFP“:

Mein Boot ist mein Leben, und ich will es nicht verlieren, Piraten und Regierungen kümmern mich nicht. (…) Die deutschen Beamten ärgern sich, dass ich hier bin. (…) Zuhause habe ich keine Freunde mehr, nach 32 Jahren auf meinem Boot habe ich den Kontakt zu ihnen verloren. Warum also sollte ich nach Deutschland zurückkehren, wo ich niemanden habe, der mir helfen könnte? (…) Alles, was ich besitze, ist auf meinem Boot. Segeln - so möchte ich leben und sterben. (…) Es ist ein bisschen wie Selbstmord. (…) Aber ich bete zu Gott, dass mich die Piraten nicht wieder schnappen. (…) Ich hoffe wirklich, dass die Piraten mich nicht kriegen, denn diesmal wird niemand für mich zahlen und alle werden den Piraten sagen: 'Behaltet ihn!'.“ (www.spiegel.de/reise/fernweh/segler-in-somalia-ein-bisschen-wie-selbstmord-a-625795.html)

In den folgenden Jahren blieb es um das Pärchen ruhig, doch in den letzten Tagen machten die Segler wieder Schlagzeilen.

Zweiter Entführungsversuch in philippinischen Gewässern 2016

Am 4. November wurde das deutsche Pärchen erneut von islamistischen Rebellen angegriffen. Der Schauplatz waren diesmal die vor der philippinischen Gewässern Provinz Tawi-Tawi, wo sie mit ihrer Jacht „Rockall“ kreuzten, als sie von Mitgliedern der Abu Sayyaf angegriffen wurden. Während Jürgen Kantner (70) noch relativ „Glück“ hatte, wurde seine Lebensgefährtin Sabine Merz erschossen. Die Leiche der Frau wurde am 5. November an Bord der verlassenen Jacht in der nahegelegenen Provinz Sulu von Soldaten entdeckt, wie Militärsprecher Filemon Tan erklärte. (www.spiegel.de/politik/ausland/philippinen-abu-sayyaf-entfuehren-offenbar-deutschen-segler-a-1120032.html)

Piraten haben unser Boot gekapert“, berichtete Jürgen Kantner. Er habe die deutsche Botschaft um Hilfe gebeten. Das Krisenzentrum im Auswärtigen Amt in Berlin bemüht sich derzeit mit Hochdruck um Aufklärung, erklärte ein Behördensprecher. (www.tagesschau.de/ausland/philippinen-165.html) Nun stellt sich die Frage, wer kann und wird Jürgen Kantner helfen und Lösegeld zahlen, oder wird man sagen „behaltet ihn“!?

Immerhin heißt es in Artikel 2 des Grundgesetzes:
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich." Allerdings hat das Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichtes unter dem Vorsitzenden Richter Ernst Benda im Verfahren Hanns Martin Schleyer gegen Bundesrepublik Deutschland (Aktenzeichen: BvQ 5/77) am 16. Oktober 1977 gezeigt, dass der deutsche Staat seinen Staatsbürgern kein unveräußerliches, sondern nur ein eingeschränktes Recht auf Leben gewährt. Bezüglich der so genannten Staatshilfe im Entführungsfall bestimmte das Gericht, dass zwar jeder Bürger ein "Recht auf Leben" hat, aber wie der Staat versuche, dieses Recht durchzusetzen, liege allein in der Entscheidungskompetenz der Exekutive. Dabei nahm das Gericht bewußt in Kauf, dass der Staatsbürger bei dem Versuch sein Leben zu retten, versterben würde, weil die Mittel, die die Exekutive dazu ergriff, sich im Nachhinein als ungeeignet erweisen würden. So wurde Schleyer damals der Staatsräson geopfert. (www.swr.de/landesschau-aktuell/bw/wurde-schleyer-ein-opfer-von-raf-und-staatsraeson/-/id=1622/did=2686762/nid=1622/bv48t9/index.html)