Militärforschung
  NATO-Artikel 4
 

NATO: Auslösung von Artikel 4?

3. Januar 2025

Gerhard Piper

Seit Jahren führt die russische Regierung einen hybriden Krieg gegen die NATO-Anrainerstaaten im Ostseeraum durch. Nun gibt es in Schweden die Initiative, die russische Aggression zum Gegenstand eines Verfahrens gemäß Artikel 4 („Konsultationsfall“) des NATO-Vertrages zu machen.

Nordatlantikrat

Mindestens einmal pro Woche kommt in der NATO-Zentrale in Brüssel (Boulevard Leopold III) das höchste militärpolitische Entscheidungsgremium, der North Atlantic Council (NAC), zu einer Besprechung zusammen, um über die aktuellen Angelegenheiten des Bündnisses zu konferieren. In der Regel sind die 32 Mitgliedsstaaten durch ihren jeweiligen NATO-Botschafter stimmberechtigt vertreten. Dreimal jährlich tagt der NAC auf der Ebene der Außenminister bzw. der Verteidigungsminister; alle zwei Jahre kommt der NAC zu einer Gipfelkonferenz auf Ebene der Staats- und Regierungschefs zusammen. Den Vorsitz der Sitzungen führt der Generalsekretär der NATO, seit dem 1. Oktober 2024 ist dies der Niederländer Mark Rutte. Deutscher NATO-Botschafter ist seit August 2023 Dr. Géza Andreas von Geyr. Die 52 Sitzungen pro Jahr sind nur ein kleiner aber entscheidender Teil der militärpolitischen Abstimmungen innerhalb der NATO, allein die NATO-Zentrale in Brüssel mit ihren 4.000 Mitarbeitern führt routinemäßig jährlich ca. 6.000 Besprechungen durch – das alltägliche Affentheater mit internationaler Uniform-Modenschau im NATO-Hauptquartier. (1)

Rechtsgrundlage des NAC ist der Artikel 9 des Washingtoner Vertrages:

„Die Parteien errichten hiermit einen Rat, in dem jede von ihnen vertreten ist, um Fragen zu prüfen, welche die Durchführung dieses Vertrags betreffen. Der Aufbau dieses Rats ist so zu gestalten, daß er jederzeit schnell zusammentreten kann. Der Rat errichtet, soweit erforderlich, nachgeordnete Stellen, insbesondere setzt er unverzüglich einen Verteidigungsausschuß ein, der Maßnahmen zur Durchführung der Artikel 3 und 5 zu empfehlen hat.“

Der Nordatlantikrat wird von einem politischen und militärischen Stab unterstützt. Die vorbereitende Arbeit für die Entscheidungen leisten Ausschüsse und Expertengruppen. Es gibt neben etlichen politischen Ausschüssen u. a. den Verteidigungsüberprüfungsausschuss, den Ausschuss für den Zivil- und Militärhaushalt, den Sicherheitsausschuss, den Luftverteidigungsausschuss, den Ausschuss für Fernmelde- und Informationssysteme, den Prüfungsausschuss für konventionelle Rüstung, den Infrastrukturausschuss, den Wirtschaftsausschuss, den Ausschuss für Information und kulturelle Beziehungen, den Wissenschaftsausschuss, den Umweltausschuss und den Ausschuss für die Aufgaben der modernen Gesellschaft. Dazu kommen verschiedene Gremien wie die Standardisierungsgruppe, die Arbeitsgruppen für konventionelle Abrüstung, die Konferenz der nationalen Rüstungsexperten, die Logistikerkonferenz, sowie Gruppen, die zu jeweils aktuellen Problemen gebildet werden.

In den Jahren nach Gründung der NATO war die Allianz ein zunächst rein militärisches Bündnis zur Landesverteidigung, obwohl dazu die notwendigen personellen und materiellen Ressourcen fehlten. Aber schon in Artikel 4 war die NATO als militär-politisches Bündnis angelegt. Dies nahm ab Mitte der fünfziger Jahre konkretere Formen an. Dazu setzte die NATO ein „Committee on Non-Military Cooperation“ ein, das aus drei Außenministern bestand: Lester Bowles Pearson (Kanada), Gaetano Martino (Italien) und Halvard Manthey Lange (Norwegen). Am 13. Dezember 1956 legte diese Kommission ihren Abschlussbericht vor. Angesichts der durchaus unterschiedlichen außenpolitischen Interessen der NATO-Mitgliedsstaaten empfahlen die Autoren - nach Angaben der NATO - folgende Maßnahmen zur politischen Abstimmung innerhalb der NATO:

„- Members should inform the North Atlantic Council of any development significantly affecting the Alliance; they should do this not as a formality, but as a preliminary to effective political consultation;

- Both individual member governments and the Secretary General should have the right to raise in the North Atlantic Council any subject which is of common NATO interest and not of a purely domestic character;

- A member government should not, without adequate advance consultation, adopt firm policies or make major political pronouncements on matters which significantly affect the Alliance or any of its members, unless circumstances make such prior consultation obviously and demonstrably impossible;

- In developing their national policies, members should take into consideration the interests and views of other governments, particularly those most directly concerned, as expressed in NATO consultation, even where no community of view or consensus has been reached in the North Atlantic Council;

- Where a consensus has been reached, it should be reflected in the formation of national policies. When, for national reasons, the consensus is not followed, the government concerned should offer an explanation to the Council. It is even more important that, when an agreed and formal recommendation has emerged from the North Atlantic Council's discussions, governments should give it full weight in any national action or policies related to the subject of that recommendation.“ (3)

Wiederholt gab es innerhalb der Allianz Beschwerden über das Konsultationsverhalten einzelner Mitgliedsstaaten, dies gilt insbesondere für die Kritik der Europäer an dem Vorpreschen der prädominanten USA bei internationalen Krisen am Rande des NATO-Gebietes, wobei diese Alleingänge oft auch die Sicherheit der europäischen Staaten gefährdeten. Immerhin ermöglichen die NAC-Sitzungen, dass auch kleinere Staaten „gleichberechtigt“ ihre Sicht der Dinge in den multinationalen Entscheidungsfindungsprozess einbringen können.

 

Artikel 4

Außerhalb der wöchentlichen Routinesitzungen kann jedes Mitgliedsland beim Generalsekretär der NATO eine Sondersitzung des NAC jederzeit beantragen. Die Rechtsgrundlage für dieses Ansinnen ist mittelbar in Artikel 4 des Washingtoner Vertrages vom 4. April 1949 festgeschrieben:

„Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“ (2)

Ein formeller Zusammentritt auf Grundlage des Artikels 4 hat zur Folge, dass die Beschlüsse für alle Mitgliedsstaaten bindend sind. Zum genauen Prozedere der Einberufung des NAC macht der Vertragstext in seiner Allgemeinheit keine Angaben.

Eigentlich scheint es unmöglich zu sein, dass der Generalsekretär die Einberufung des NAC verweigert, obwohl schon mehrfach der Antrag für eine Sondersitzung des NAC abgelehnt wurde. Zum NAC-Entscheidungsfindungsprozess macht der Vertragstext keine Vorgaben. So ist unklar, wann der NAC einstimmig, mit Zwei-Drittel-Mehrheit oder einfacher Mehrheit seine Beschlüsse fassen muss. Jedenfalls werden im Prinzip alle Beschlüsse nach dem Konsensprinzip einstimmig gefasst. Artikel 4 verlangt diesbezüglich nur, dass überhaupt ein Konsultationsprozess eingeleitet wird, ohne dass konkrete politische und/oder militärische Maßnahmen beschlossen werden müssen; diese werden aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen.

Tatsächlich war es bisher sieben Mal der Fall, dass ein Bündnisstaat seine Bedrohungslage für so gravierend einschätzte, dass man nicht bis zur nächsten wöchentlichen Routinesitzung warten wollte, sondern eine ad-hoc-Sondersitzung des NAC gemäß Artikel 4 beantragte. Schließlich entwickelt jede Krise ihre eigene Dynamik und erfordert schnelles Handeln:

- 10. Februar 2003: 54 Jahre nach Gründung der NATO verlangte erstmal die türkische Regierung (Mitgliedschaft seit dem 19. Februar 1952), dass der NAC wegen der Auseinandersetzungen im Irak, die durch die U.S. Intervention (Operation DESERT STORM) ausgelöst wurde, zu einer Sondersitzung zusammentrat. Dabei ging die Aggression ursprünglich von der Türkei und ihrer islamistischen Regierung selbst aus, die den US-Angriff auf den Irak ausnutzte, um im Nordirak eigene Ziele durchzusetzen. In Ankara befürchtete man damals, dass die Kämpfe im Nachbarland zur Bedrohung für die Sicherheit seiner Bevölkerung oder seines Gebietes eskalieren könnten. Die NATO beließ es nicht bei Konsultationen. Die USA entsandten im Auftrag der NATO Bodentruppen zur Verstärkung des türkischen Grenzschutzes (Operation DISPLAY DETERRENCE). Außerdem schickte die NATO Patrouillenflugzeuge E-3A Sentry AWACS der NATO Airborne Early Warning & Control Force (NAEW&CF) aus Geilenkirchen (BRD) in den türkischen Luftraum. Auch rund 20 deutsche Soldaten waren Teil der Besatzungen der AWACS-Aufklärungsflugzeuge, dagegen protestierte die FDP und klagte vergeblich vor dem Bundesverfassungsgericht (Beschluss 2 BvQ vom 25. März 2003). (4) Diese Operation dauerte von Ende Februar bis Anfang Mai 2003. (5)

- 22. Juni 2012: Nach dem Abschuss eines türkischen Aufklärungsflugzeuges RF-4E Phantom II vor der syrischen Küste im Raum Latakia durch eine Flugabwehrrakete S-200 der syrischen Kräfte, forderte die türkische Regierung eine Sondersitzung des NAC. Bei dem Abschuss kamen Pilot und Copilot ums Leben.

- 3. Oktober 2012. Am 3. Oktober 2012 verlangte die Türkei erneut eine Sondersitzung des NAC. Anlass war die Tötung von fünf türkischen Zivilisten bei einem Granatenangriff aus Syrien. Auch diesmal beließen es die NATO-Botschafter nicht bei einer reinen Konsultation, Vielmehr stimmte die NATO zu, dass einzelne Mitgliedsstaaten ihre Flugabwehrsystemen MIM-104 Patriot PAC-2/3 an der türkisch-syrischen Grenze dislozierten (Operation ACTIVE FENCE). Allerdings war die Entscheidung umstritten, da unklar blieb, ob der türkische Geheimdienst MIT den vermeintlichen Angriff nicht selbst initiiert hatte. (6) Die Bundeswehr war mit ihren Flugabwehreinheiten bis Oktober 2015 an der Operation beteiligt.

- 3. März 2014: Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und der Ankündigung von russischen Marinemanövern in der Ostsee beantragten Litauen und Polen eine Sondersitzung des NAC. Einen Tag später traten die NATO-Botschafter als NATO-Russland-Rat (NRR) erneut zusammen, um mit den russischen Vertretern die Angelegenheit zu erörtern. Nach der NRR-Sitzung erklärte der damalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, das Bündnis wolle auf Distanz zu Russland gehen und seine Beziehungen zur Ukraine intensivieren.

- 26. Juli 2015: Erneut verlangte die Türkei ein Treffen gemäß Artikel 4. Anlass waren die Kämpfe zwischen den türkischen Streitkräften und dschihadistischen Kämpfern des „Islamischen Staates“ (IS) an der syrisch-türkischen Grenze. Diese forderten auf türkischer Seite Dutzende Tote, so starben bei einem Anschlag in der kurdischen Stadt Suruç am 20. Juli 34 Menschen, mehr als 100 Personen wurden verletzt. Auch diesmal blieb unklar, ob der türkische Geheimdienst im Hintergrund die Fäden gezogen hatte. Gleichzeitig führte die Türkei ihrerseits Luftschläge gegen IS-Stellungen in Syrien durch. Zur Gemengelage des Konfliktes gehörte, dass die türkischen Streitkräfte gleichzeitig gegen die Miliz der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak vorgingen. Gleichzeitig gingen die USA ebenfalls gegen den IS vor, waren aber andererseits mit den Kurden verbündet (US-Operation INHERENT RESOLVE). Angesichts dieses Interessenkonfliktes verzichtete man auf die Feststellung des Bündnisfalles gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages.

Am 1. Dezember 2015 beschloss die Bundesregierung sich an der laufenden „Anti-IS-Operation“ zu beteiligen. So waren Bundeswehrsoldaten erneut an einem AWACS-Einsatz beteiligt. Die Bundesmarine sicherte dem französischen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ Begleitschutz zu (Operation COUNTER DAESH) und unterstützte die Luftoperationen durch Aufklärer vom Typ Tornado und Tankflugzeuge (NATO-Operation INHERENT RESOLVE). Bis zu 1.200 Bundeswehrsoldaten wurden zunächst bis zum 31. Dezember 2016 eingesetzt, anschließend wurde der Einsatz bis zum 31. Dezember 2017 verlängert. Gegen die Beteiligung der Bundeswehr klagte die Linkspartei vergeblich vor dem Bundesverfassungsgericht (Beschluss 2 BvE 2/16 vom 17. September 2019). (7)

- 24. Februar 2022: Mehrere osteuropäische NATO-Staaten (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei und Tschechien) beantragten gemeinsam eine NAC-Sondersitzung angesichts des erneuten russischen Überfalls auf die Ukraine. Daraufhin beschloss die NATO, ihre Ostflanke gegen Russland und Belarus zu Lande, zu Wasser und in der Luft besser zu schützen. So wurden weitere Truppenteile nach Osteuropa (Baltikum, Polen, Slowakei, Rumänien) dauerhaft verlegt, daran ist auch die Bundeswehr mit ihrer Litauen-Brigade und ihren Patriot-Einheiten beteiligt. Am 2. und 4. März 2022 folgten zwei weitere außerordentliche Treffen des NAC diesbezüglich.

- November 2022: Nachdem am 15. November 2022 eine ukrainische Flugabwehrrakete, die ihr russisches Ziel offensichtlich verfehlt hatte, in dem polnischen Grenzdorf Przewodów eingeschlagen war, wodurch zwei Einwohner (Bogusław Wos und Bogdan Ciupek) ums Leben kamen, beantragte die litauische Regierung eine Sondersitzung des NAC. Auch der polnische Präsident Andrzej Sebastian Duda hatte mit dem amtierenden NATO-Generalsekretär, Jens Stoltenberg, über eine mögliche Anwendung von NATO-Artikel 4 gesprochen. Die NATO-Gremien hatten den Zwischenfall ohnehin auf ihrer Tagesordnung und wandelten den Status ihrer Lagebesprechung formell um in eine Konsultation gemäß Artikel 4. Die polnische Regierung erhöhte die Gefechtsbereitschaft ihrer Flugabwehrverbände.

Am 28. Februar 2020 sollte der NAC auf Bitten der Türkei erneut zu einer Sondersitzung zusammentreten, um angesichts der jüngsten Eskalation des Konflikts zwischen der Türkei und Syrien über die Lage zu beraten. Anlass war der syrisch-russische Angriff im Raum Idlib. Allerdings kam es nicht zu einer solchen Sondersitzung. (8)

Im Jahr 2021 kamen bei einem syrischen Angriff mehrere türkische Soldaten ums Leben. Daraufhin beantragte die Türkei erneut eine NAC-Sondersitzung. Der Antrag wurde abgelehnt und der Vorfall im Rahmen der üblichen Lagebesprechungen abgearbeitet. (9)

 

Schwedische Initiative

Ende Dezember 2024 forderte die sozialdemokratische Opposition die schwedische Regierung auf, bei der NATO eine Sondersitzung des NAC gemäß Artikel 4 zu beantragen. Protagonist der Forderung ist Peter Hultqvist, der verteidigungspolitische Sprecher der Sozialdemokraten. Außenministerin Maria Malmer Stenergard erklärte, dass man die weiteren Ermittlungen der Sicherheitsbehörden abwarten wolle, dass man aber andererseits „nichts ausschließt“.

Schweden ist erst seit dem 7. März 2024 Mitglied der Allianz. Es bleibt abzuwarten, wann der Nordatlantikrat zu einer Sondersitzung angesichts der Vorfälle im Ostseeraum zusammentritt. (10) Grund für das Begehren waren die fortgesetzten hybriden Angriffe Russlands gegen die schwedische Infrastruktur:

- Seit Mitte März 2015 störte die Baltische Flotte der russischen Kriegsmarine viermal den Bau der Stromverbindung „Nordbalt“, eine 700-MW-Leitung von Klaipėda (Litauen) nach Nybro in Schweden. Schwedens Außenministerin Margot Wallström bezeichnete die Zwischenfälle als inakzeptabel. Litauen bestellte den russischen Botschafter in Vilnius ins Außenministerium ein, erhielt aber offenbar keine direkten Erklärungen.

- Im Winter 2023/24 wurde eine wichtige Bahnstrecke beschädigt, dadurch sind zwei Güterzüge entgleist. Die schwedische Sicherheitspolizei Säkerhetspolisen (Säpo) vermutet einen Sabotageakt: Am Abend des 17. Dezember 2023 verunglückte ein vollbeladener Erzzug der „Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag“ (LKAB) auf der schwedisch-norwegische „Malmbanen“-Erzbahn auf der Fahrt von Kiruna nach Narvik im Bahnhof Vassijaure, nahe der norwegischen Grenze. Das staatliche Unternehmen betreibt in Kiruna das weltgrößte Eisenerzbergwerk und fördert das Erz auch in Svappavaara und in Malmberget bei Gällivare. Die betroffene Strecke musste für zwei Monate gesperrt werden.

- Am 8. Oktober 2023 kam es zu ominösen Schäden an Unterwasserleitungen zwischen Schweden, Finnland und Estland. Zur gleichen Zeit wurden ein Telefonkabel zwischen Schweden und Estland, ein Telefonkabel zwischen Finnland und Estland und die Gasleitung „Balticconnector“ zwischen Finnland und Estland beschädigt.

- Am 24. Februar 2024 sprang ein leerer Erzzug mit sieben Wagen auf der Fahrt von Narvik nach Kiruna erneut aus den Gleisen. Die Unfallstelle befindet sich zwischen Katterjokk und Vassijaure. Nach Angaben des schwedischen Infrastrukturbetreiber „Trafikverket“ wurden Schienen, Schwellen und Fahrleitungsanlagen beschädigt. Für die Grubengesellschaften der „LKAB“ und „Kaunis Iron“ bedeutet der erneute Streckenunterbruch eine finanzielle Katastrophe. (11)

- Am 17. November 2024 fiel das Datenkabel „BCS East-West-Interlink“ zwischen der schwedischen Insel Gotland und Litauen komplett aus. Gleichzeitig wurde das Datenkabel „C-Lion1“, das zwischen Finnland und der BRD verläuft, in schwedischen Gewässern beschädigt. (12)

 

Artikel 5

Neben den Konsultationspflichten in Artikel 4 bestimmt der schärfere Artikel 5 die Auslösung des Bündnisfalls:

„Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ (13)

Nach den Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg hatten sich das Vereinigte Königreich, die drei Benelux-Staaten und Frankreich am 17- März 1948 im „Brüsseler Pakt“ zum automatischen militärischen Beistand gemäß Artikel 4 des Brüsseler Vertrages verpflichtet:

„Sollte einer der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.“ (14)

Dies wurde vom US-Kongress abgelehnt, der auf seinem Recht beharrte, im Kriegsfall selbst zu entscheiden, ob man sich an dem bewaffneten Konflikt beteiligen wolle oder nicht. Als Alternative wurde daher auf Initiative der USA die NATO im April 1949 gegründet. Deren Gründungsvertrag kennt weder eine automatische Beistandsverpflichtung, ja noch nicht einmal eine automatische Konsultationsverpflichtung. Dies führte seit Gründung der NATO stetig zu Zweifeln an der Bündnistreue der USA und forcierte Ängste vor einem begrenzten (Atom-)Krieg in Europa. Aus dem „Brüsseler Pakt“ wurde schließlich 1955 die Westeuropäische Union (WEU).

Während man seit Gründung der NATO davon ausging, dass mit Artikel 5 insbesondere die Beistandsverpflichtung der USA gegenüber ihren (west-)europäischen Bündnispartnern adressiert wurde, kam es anders:

Am 12. September 2001, weniger als 24 Stunden nach den Terroranschlägen der Al Qaida (AQ) gegen die USA, erklärte die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen (möglichen) Bündnisfall nach Artikel 5. Die NATO teilte mit, die Anschläge mit rund 3.000 Toten würden entsprechend eingestuft, falls sich herausstelle, dass sie vom Ausland aus eingeleitet worden seien. Am 2. Oktober erklärte die NATO dezisionistisch, die genannten Voraussetzungen für erfüllt. Die Entscheidung war nicht unumstritten, da es sich bei Al Qaida nicht um eine staatliche Organisation handelte, sondern „nur“ um einen „non-state actor“. In der Folge unterstützte die NATO die USA mit AWACS-Aufklärungsflugzeugen, die bis Mitte Mai 2002 im Luftraum über den USA patrouillierten (Operation EAGLE ASSIST). NATO-Schiffe kreuzten auf Terroristenjagd im Mittelmeer (Operation ACTIVE ENDEAVOUR).

Später beteiligte sich die NATO am US-Angriff auf Afghanistan (US-Operationen ENDURING FREEDOM und ANACONDA bzw. NATO-Unterstützungsoperation RESOLUTE SUPPORT). (15) Die Bundeswehr beteiligte sich an der Intervention in Afghanistan und führte verschiedene Aktionen durch (Operationen HAREKATE YOLO I/II, KAREZ, SAHDA EHLM, OQAB, EXPAND TO SOUTHERN CHAHAR DARREH, GALA-E-GORG, TAOHID, HALMAZAG, etc.). (16)

Da die NATO-Gremien – im Prinzip – alle Beschlüsse einstimmig fassen, stellt sich die Frage, ob die NATO im „Verteidigungsfall“ handlungsfähig bleibt. So könnten Bündnisstaaten mit einer pro-russischen Regierung wie in der Slowakei (Ministerpräsident Robert Fico) oder Ungarn (Ministerpräsident Viktor Mihály Orbán) eine Beschlussfassung sabotieren. In diesem Fall bliebe es den einzelnen Staaten überlassen, in welchem Umfang sie sich am Abwehrkampf beteiligen wollen. Allerdings bedeutet dies, dass sich in der Praxis gegenüber einer formellen Feststellung des Bündnisfalles nichts ändert. In jedem Fall entscheidet jeder Mitgliedsstaat in eigener Souveränität über den Umfang seines Militäreinsatzes.

 

Hybride Kriegführung quo vadis?

Seit Jahren führt die russische Regierung einen hybriden Krieg gegen die NATO-Anrainerstaaten im Ostseeraum durch. Betroffen sind insbesondere die beiden Neumitglieder Schweden und Finnland. Ein Ende der russischen Aggressionen ist – unabhängig von einem möglichen Ende des Ukrainekrieges - nicht abzusehen, es sei denn, das Hauptquartier des russischen Militärgeheimdienstes GRU am Chodinka-Flugfeld in Moskau (Uliza Grisodubowoi) als Schaltzentrale der Angriffe würde durch einen massiven Drohnenangriff zerstört werden. Die russischen Attacken verursachen jedes Jahr einen ökonomischen Schaden in Höhe von mehreren Milliarden Euro, außerdem hat es wiederholt Tote gegeben. Im Laufe der Jahre summieren sich die Schäden und erfordern eine entschlossenere Reaktion der NATO. Dies könnte dazu führen, dass die Trennschärfe zwischen Artikel 4 und Artikel 5 – die Feststellung des „Bündnis-“ bzw. „Verteidigungsfalles“ - verschwimmt.

Die NATO hat bereits mehrfach über die hybriden Vorfälle beraten und ihre regionale Militärpräsenz erhöht. Allerdings hält sich die NATO bisher auffallend zurück. Am 18. November 2024 warfen die Außenminister von Deutschland, Polen, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien sowie die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas Russland vor, „systematisch die europäische Sicherheitsarchitektur anzugreifen". „Moskau verstärkt seine hybriden Aktivitäten gegen NATO- und EU-Staaten in bisher nicht gekanntem Ausmaß und Vielfalt, was erhebliche Sicherheitsrisiken mit sich bringt.“ (17)

Angesichts der fortgesetzten russischen Aggression gegen das Bündnisgebiet, insbesondere im Ostseeraum, könnte die Allianz die Angriffe schließlich zum Gegenstand eines Verfahrens gemäß Artikel 4 des NATO-Vertrages machen.

Dann stellt sich die Frage, bleibt es bei einem reinen Konsultationsverfahren oder wird die NATO praktische (para-)militärische Maßnahmen ergreifen.   
Dann stellt sich die Frage, ob die NATO ihrerseits mit einem hybriden Krieg gegen die russische Föderation beginnt.          
Dann stellt sich die Frage, ob die submilitärische Auseinandersetzung eskaliert und der NAC den „Bündnisfall“ gemäß Artikel 5 feststellt.

 

Quellen:

(1) https://www.bmvg.de/de/themen/dossiers/die-nato-staerke-und-dialog/stahl-
granit-ganz-viel-glas-hauptquartier-nato-bruessel-5633070

(2) https://www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_17120.htm?blnSublanguage=true&selectedLocale=de

(3) https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_65237.htm

(4) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/
DE/2003/bvg03-026.html

(5) https://www.rnd.de/politik/nato-bundnisfall-wann-artikel-4-und-5-des-
nato-vertrags-genutzt-wurden-M7K5Q35KZJ3JM6PV2Y2SE6MNJM.html

(6) https://anfdeutsch.com/aktuelles/tuerkei-aktiviert-artikel-4-der-nato-vertraege-17574

(7) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/
DE/2019/bvg19-065.html

(8) https://www.rnd.de/politik/nato-bundnisfall-wann-artikel-4-und-5-des-
nato-vertrags-genutzt-wurden-M7K5Q35KZJ3JM6PV2Y2SE6MNJM.html

(9) https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/nato-vertrag-artikel-4-erklaert-
bedeutung-und-erklaerung-update-16-11-22-101891942

(10) https://de.euronews.com/2024/12/29/ostseekabel-vorfall-schwedens-
opposition-will-nato-artikel-4-ausrufen

(11) https://www.homepage-baukasten-dateien.de/milfors/240522%20Ostsee.pdf

(12) https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ostsee-datenkabel-
schweden-ermittelt-100.html

(13) https://www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_17120.htm?blnSublanguage=
true&selectedLocale=de

(14) https://www.politische-union.de/weuv48/

(15) https://www.rnd.de/politik/nato-bundnisfall-wann-artikel-4-und-5-des-
nato-vertrags-genutzt-wurden-M7K5Q35KZJ3JM6PV2Y2SE6MNJM.html

(16) https://www.bundestag.de/resource/blob/881198/27fd4f597e1d4ee43350
aafffc6f%209d8c/WD-2-062-21-pdf-data.pdf

(17) https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ostsee-datenkabel-
schweden-ermittelt-100.html