Militärforschung
  Ukraine-Krieg 2.0 - 22. Update
 

Ukraine-Krieg 2.0 – Update 22 vom 19. März (D+21)

Gerhard Piper

Lageentwicklung

Der belarussische Tyrann Lukaschenko äußerte seine Meinung zur Person des russischen Tyrannen: Er sei ein „ganz normaler und vernünftiger Mensch“. Und weiter: „Wenn Sie glauben, dass Präsident Putin körperlich untauglich ist oder dass etwas passiert ist... Er ist, wie wir hier sagen, lebendiger als die anderen.“ (https://www.n-tv.de/politik/14-17-Britische-Ex-Premiers-fordern-Kriegsverbrechertribunal-im-Stil-der-Nuernberger-Prozesse--article23143824.html) Es ist bestimmt völlig „normal“, dass ein Tyrann einen anderen Tyrannen für völlig „normal“ hält. Aufgrund der vielen Toten hat Lukaschenko sogar recht, wenn er behauptet, Putin sei lebendiger als seine Opfer.

Verhandlungen

Dass es zu einer Anklage gegen Wladimir Putin und seine Generäle vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag kommt, gilt als unwahrscheinlich. Der IGH ist eine An-Organisation der UNO und Moskau könnte gegen den Beginn eines Verfahrens im UN-Sicherheitsrat ein Veto einlegen. Daher fordern die beiden früheren britischen Premierminister Gordon Brown und John Major (beide Labour Party), dass ein gesondertes Kriegsverbrechertribunal eingerichtet wird. Brown vergleicht das Vorhaben mit dem „Nürnberger Prozess“, sowie den Sondertribunalen für Ruanda (International Criminal Tribunal for Rwanda [ICTR]) in Arusha (Tansania) und Ex-Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia [ICTY]) in Den Haag (Niederlande).

Truppenaufmarsch:

„Wikipedia“ hat eine vierseitige Liste über die Gefechtsordnung der russischen Heeresverbände und der ukrainischen Bodentruppen mit den Namen der aktuellen Kommandeure zusammengestellt: https://en.wikipedia.org/wiki/Order_of_battle_for_the_2022_Russian_invasion_of_Ukraine

Die russische Militärfahrzeuge sind mit verschiedenen Invasionskennzeichen markiert, um sie als „russisch“ zu kennzeichnen: „V“ im Norden, „O“ im Nordosten, ein „Z“ in einem Quadrat im Osten und ein „Z“ im Süden. So kann man bei Kriegsfotos zuordnen, wo sie ungefähr aufgenommen wurden.

Gefechte:

Das britische Verteidigungsministerium warnte vor einem russischen „Zermürbungskrieg“, der das Land zerstören würde: „Russland war gezwungen, seinen operativen Ansatz zu ändern und verfolgt nun eine Strategie der Zermürbung. (…) Dies wird wahrscheinlich zu einem wahllosen Einsatz von Feuerwaffen führen, was zu mehr zivilen Opfern und zur Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur führen und die humanitäre Krise verschärfen wird." (https://www.n-tv.de/politik/14-17-Britische-Ex-Premiers-fordern-Kriegsverbrechertribunal-im-Stil-der-Nuernberger-Prozesse--article23143824.html)

Nach ukrainischen Angaben konnten in den letzten 24-Stunden zwei Flugzeuge, drei Hubschrauber, drei Drohnen und vier Marschflugkörper zerstört werden.

Kiew-Umgebung:

- Makariw:

In Makariw sind 5 Einwohner durch einen russischen Mörserangriff umgekommen.

Süden:

- Kherson:

Die heftigen Kämpfe um den Flughafen von Kherson in Tschernobajiwka, wo die Russen einen Teil ihres Fluggeräts disloziert haben, dauern an. Die Ukrainer unternahmen bereits ihren sechsten Angriff.

- Mariupol:

Die Bergungsarbeiten am eingestürzten Theater dauern an. Nach Angaben des Bürgermeisters Wadym Bojtschenko behindern die Straßenkämpfe im Stadtzentrum die Rettungsarbeiten. Von den vermutlich 1.300 Verschütteten konnten erst mindestens 130 Menschen gerettet werden. Neuere Zahlen sind nicht verfügbar. Die übrigen Opfer warten seit drei Tagen auf Rettung.

Das Stahlwerk „Azovstal“ in Südosten der Stadt, eines der größten Stahlfabriken in Europa, ist bei den Kämpfen vollständig zerstört worden. „Wir haben diesen Wirtschaftsriesen verloren“, erklärte der ukrainische Präsidentenberater Vadym Denysenko.

- Mykolajiw:

In der Nacht vom 18. auf den 19. März wurde die Kaserne der Marine angegriffen. Mindestens 200 Soldaten schliefen in den Baracken. Bisher wurden ca. 50 Leichen geborgen. (https://www.n-tv.de/politik/14-17-Britische-Ex-Premiers-fordern-Kriegsverbrechertribunal-im-Stil-der-Nuernberger-Prozesse--article23143824.html)

- Nowa Kachowka:

Russische Soldaten oder Agenten haben einen Mitarbeiter des Stadtrats von Nowa Kachowka, Dmytro Vasyliev, gefangen genommen. Er werde „in einer örtlichen Haftanstalt gefoltert“, wurde dazu von ukrainischer Seite mitgeteilt.

- Saporischschja:

Die Gefechte in und um Saporischschja dauern an. Nach Angaben des Vizebürgermeisters Anatolii Kurtiew starben 9 Menschen, 17 wurden verwundet.

Westen

- Deljatyn:

In Deljatyn (ca. 8.200 Einwohner), südlich von Iwano-Frankiwsk, befand sich ein unterirdisches Munitions- und Raketenlager der ukrainischen Streitkräfte. Am Samstagmorgen wurde das Depot durch eine Hyperschallrakete vom Typ Ch47M2 KINSCHAL (NATO-Code: AS-24 KILLJOY) getroffen. Es war das erste Mal, dass dieser neue Flugkörpertyp zum Einsatz kam. Der Flugkörper hat bei einer Länge von 7 m einen Durchmesser von ca. 1 m. Er trägt einen 500-kg-Splittergefechtskopf oder einen nuklearen Sprengkopf. Bish er gibt es für diesen Luft-Boden-Flugkörper nur ein Trägersystem, die Mikojan-Gurewitsch MiG-31K (NATO-Code: FOXHOUND). Sie wurden Anfang Februar 2022 auf dem Fliegerhorst Tschkalowsk in der Enklave Kaliningrad stationiert. (https://www.flugrevue.de/militaer/hyperschallwaffe-russland-verlegt-mig-31k-mit-kinschal-nach-kaliningrad/) Nach russischen Angaben kommen auch die Tupolew Tu-22M und die Tu-22M3M (NATO-Code: BACKFIRE-D) als Trägersysteme in Frage. Amerikanische Quellen vermuten, dass auch die Suchoi Su-34 (NATO-Code: FULLBACK) mit der Rakete ausgerüstet werden kann. Das Gesamtsystem – Trägerflugzeug plus Flugkörper – trägt die Bezeichnung BURESTNIK.

Die ISKANDER der 152. Raketenbrigade in der Enklave Kaliningrad haben wohl eine zu kurze Reichweite, um damit Berlin atomar zu zerstören. Hingegen könnte ein Mittelstreckenbomber TU-22M3M vom Fliegerhorst Engels in den belarussischen Luftraum einfliegen und von dort seine KINSCHAL abfeuern, um Berlin zu pulverisieren. Der Flugkörper würde sein Ziel in rund 700 km Entfernung bei angeblich zehnfacher Schallgeschwindigkeit (ca. 12.000 km/h) in ca. dreieinhalb Minuten erreichen. Als Wladimir Putin am 1. März 2018 in einer Rede zur Lage der Nation vor dem Föderationsrat die neue Hyperschallrakete der Öffentlichkeit vorstellte, waren die Militärinterpreten der Linksparteil voll auf begeistert, dass es den russischen Rüstungsingenieure gelungen war, ein System zu entwickeln, mit dem die Raketenabwehrsysteme der imperialistischen penetriert werden können. Idioten!

Verluste:

Bei einem ukrainischen Artillerieangriff in Tschernobajiwka ist der Generalleutnant Andrej Nikolajewitsch Mordwitschew, Kommandeur der 8. Kombinierten Garde Armee aus Novocherkassk, gefallen. Der General wurde getötet, als eine Granate seinen Gefechtsstand am Flughafen von Kherson traf. Wie hoch die Zahl der übrigen Opfer war, wurde nicht bekannt.

Zivilbevölkerung:

Innerhalb der Ukraine sollen schätzungsweise 6 Millionen Menschen auf der Flucht sein, ins Ausland strömten bisher 3,2 Millionen Menschen. Die Russen haben mit ihrem Angriff zur Vernichtung der Existenz der Ukraine die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Nach Angaben der Bundespolizei wurden bis Samstagmittag 207.742 Kriegsflüchtlinge in Deutschland registriert, die tatsächliche Zahl ist nicht behördenbekannt.

Ein Problem ist, dass die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die keine ukrainischen Staatsbürger sind, keinen Anspruch auf EU-Hilfe haben sollen. Dies betrifft insbesondere Studenten aus Afrika und Asien. Außerdem beklagten sich die Schwarzafrikaner wiederholt über Fälle von Rassismus in Polen. So müssten sie an den Grenzübergangsstellen und in den Aufnahmelagern noch wesentlich länger warten, als die Flüchtlinge weißer Hautfarbe.

Atomwaffen / AKWs:

Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter beurteilt die Lage an den Atommeilern in der Ukraine weiterhin als „sehr ernst“.

Aufgrund der derzeitigen Energiekrise hat die belgische Regierung angekündigt, dass sie ihre Schrottreaktoren (Doel 4 bei Antwerpen und Tihange 3 bei Lüttich) nicht wie geplant 2025 stilllegen will, vielmehr will sie nun deren Laufzeiten um weitere zehn Jahre verlängern will. Aufgrund der zahlreichen Störfälle in den belgischen Meilern sind in Nordrhein-Westfalen die Jodtabletten stellenweise ausverkauft. (https://www.tagesschau.de/ausland/belgien-atomkraft-101.html)

BRD:

Die Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) stellte fest, dass nach drei Wochen Kriegzugucken die Kapazitäten der Bundeswehr nun erschöpft seien. Man werde keine Waffen und keine militärische Ausrüstung mehr liefern. Demgegenüber beginnt nun das Bundesinnenministerium damit, Zivilschutzmaterial an die Ukraine zu liefern, dazu zählen u. a. kleine Bergungsbagger. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in Bonn fordert nun eine Aufstockung des Zivilschutzetats.

Russland:

Politikwissenschaftler behaupten beständig, Sanktionsmaßnahmen seine wirkungslos, bestenfalls kontraproduktiv. Davon haben sich die Politiker nicht beirren lassen und massive Sanktionen gegen Russland verhängt. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen hängt von der Produktivität bzw. Resilienz der russischen Wirtschaft ab. Diese ist unter aller Sau. Rund dreiviertel aller Güter des täglichen Bedarfs müssen importiert werden. Rund 25 Millionen der 144 Millionen Einwohner lebten schon bei Kriegsbeginn in Armut; 61 Prozent der Bevölkerung gaben den Großteil ihres Einkommens ausschließlich für den Kauf von Lebensmitteln aus, 54 Prozent der arbeitenden Bevölkerung galt als verschuldet.

Es ist zu vermuten, dass die Kluft zwischen den Neu-Reichen („nuvorishi“) und den Armen, gemessen durch den sogenannten Gini-Koeffizienten, sich noch weiter ausweiten wird, wie schon in den vergangenen Jahren. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass die Mittelschicht weiter schrumpfen wird.

Es gibt nicht nur eine Fluchtbewegung aus der Ukraine, auch aus Russland hat sich ein Flüchtlingsstrom in Marsch gesetzt. Die gebildeten, jungen und daher besonders dynamischen Bevölkerungskreise verlassen als „brain drain“ ihr Land der Tyrannei. Seit Kriegsbeginn sollen sich bereits 200.000 Intellektuelle auf den Weg gemacht haben. Durch die EU-Sanktionen und die Einstellung des Flugverkehrs sind die Auswanderungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, aber die Russen finden noch einen Weg per Eisenbahn über Finnland oder per Flugzeug über Georgien, Armenien oder die Türkei. So hat sich die Primaballerina des Bolschoi-Theaters in Moskau aus Protest gegen die Kriegspolitik des Kreml in die Niederlande abgesetzt. Kann es eine größere militärpolitische Katastrophe in Russland geben?

Besonders prekär ist die Situation im Gesundheitswesen: Rund 90 Prozent aller Medikamente werden aus dem Westen importiert oder mit Komponenten aus dem Westen von Firmen in Russland gefertigt, die wiederum „westlichen“ Pharmakonzernen („Bayer“, „Merck“, etc.) gehören. Medikamente sind z. T. gar nicht mehr vorhanden, z. T. nur zu überhöhte Preisen auf dem Schwarzmarkt. Hinzu kommt der miese Allgemeinzustand des Gesundheitswesens: So waren Anfang 2020 über 41 Prozent der Krankenhäuser nicht an das Zentralheizungssystem angeschlossen, über 30 Prozent waren nicht an die Wasserversorgung angebunden. Mittlerweile zeitigen die Sanktionen erste Engpässe in der Medikamentenversorgung. Besonders betroffen sind insbesondere die Senioren mit ihren Mini-Renten von rund 200 Euro pro Monat. Viele Senioren müssen sich am Monatsanfang entscheiden, kaufen sie lebensnotwendige Medikamente oder lebensnotwendige Lebensmittel. Sie sind aufgrund ihrer Altersgebrechen in besonderem Maße auf eine funktionierende Gesundheitsversorgung angewiesen, die auf dem Land ohnehin kaum gewährleistet wird. Mit den Rentnern ist nun eine der dekadenten Bevölkerungsgruppen betroffen, die die national-chauvinistische Politik Putins immer in besonderem Maße unterstützt hat. So wird der Krieg mittelbar auch in Russland zahllose Todesopfer fordern.

Gefährlich wird die angespannte Wirtschaftslage, wenn die Versorgung der 144 Millionen Einwohner zusammenbricht oder die schmarotzenden Apparatschiks der auswuchernden Bürokratie nicht mehr rechtzeitig und vollständig entlohnt werden können. Hier gilt das Lenin-Wort: „Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“.

Propaganda: „Youtube“ hat 54 Anbieter, insbesondere die Staatsmedien (RBK, NTW, TNT, etc.), geblockt. Ausgerechnet die russische Behörde für Pressekontrolle, Roskomnadsor, warf „Youtube“ vor, Zensur auszuüben. Sie drohte mit „technischem Einwirken“.