Die Machenschaften des staatlichen Attentäters Bilel Ben Ammar (Update)
Gerhard Piper
22. Februar 2019, Update vom 4. März 2019
Bilel Ben Ammar traf sich am Abend des 18. Dezember 2016 mit Anis Ben Othman Amri und war am folgenden Tag auf dem Breitscheidplatz, als Anis Amri seinen Terroranschlag verübte. Wie jetzt bekannt wurde, half er dem Attentäter zu flüchten. Wie jetzt ebenfalls bekannt wurde, arbeitete Bilel Ben Ammar für den marokkanischen Geheimdienst „Direction générale de la surveillance du territoire“ (DGST). Dabei ist Ammar nur einer von einem halben Dutzend V-Männer im Umfeld des Attentäters. War der Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt eine Operation der Geheimdienste? Am 1. Februar 2017 verhalf die Bundesregierung dem Mittäter Ammar zur Flucht nach Afrika. Angela Merkel hatte vollständige Aufklärung versprochen, davon kann trotz der Arbeit gleich dreier parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Berlin und Düsseldorf nicht die Rede sein.
- Einreise nach Deutschland
„Abo Baker“ alias „Abu Bakir Muawed“ alias „Ahmed Hassan“ (andere Schreibweise: „Ahmad Hassan“) alias „Bilal B.“ alias „Fathi Mheni“ alias „Mohamed Belaid Q.“ alias Bilel Ben Ammar (oft nur Bilel A.) (arab.: بيلي بن عمار) ist tunesischer Staatsbürger. Insgesamt benutzte er mindestens zwölf Aliasse. Er wurde 1990 in Bizerte geboren. Möglicherweise ist er in Tunesien verheiratet und hat zwei Kinder.
Er kam mit dem Boot von Tunesien nach Italien und reiste danach weiter in die Schweiz. Am 14. Oktober 2014 beantragte er in der Schweiz Asyl, zog den Antrag aber zehn Tage später wieder zurück. Noch im Oktober 2014 kam Bilel Ben Ammar mit sechs anderen Tunesiern (u. a. Sabou Saidani, Sabri S.) (1) nach Deutschland. Alle stammten aus der Hafenstadt Bizerte. In der Bundesrepublik benutzt Bilel Ben Ammar 18 verschiedene Aliasnamen; gab sich mal als Marokkaner, mal als Ägypter und dann wieder als Libyer aus. Sein Wohnort pendelte zwischen Leipzig und Berlin.
Er wurde als Asylbewerber dem Bundesland Sachsen zugewiesen und kam zunächst in Leipzig unter. Zeitweise wohnte er in Chemnitz. Er wohnte zuletzt als „Abu B.“ in der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge (ZASt) in Berlin-Siemensstadt (Motardstraße 101A, Haus 2). Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Bilel Ben Ammar soll von April bis November 2015 in Leipzig (Sachsen), Berlin und Mettmann (NRW) zu Unrecht und wissentlich Sozialleistungen in Höhe von 2500 Euro bezogen haben.
In Berlin soll er mehrere Affären gehabt haben, aber keine festere Bindung.
- Kriminalität
Bilel Ben Ammar soll wiederholt Drogen konsumiert haben, diese beschaffte er sich teilweise über Anis Ben Othman Amri.
Im Jahr 2015 wurde er in Sachsen wegen mehrfachen Diebstahls verurteilt. Im November 2016 wurde er wegen Diebstahls mit Waffen zu einer siebenmonatigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. (2)
Am 24. November 2016 wurde Bilel Ben Ammar - unter dem falschen Namen „Abu Bakir Muawed“ – vom Amtsgericht Tiergarten zu einer Haftstrafe von sieben Monaten auf Bewährung verurteilt:
„Das Urteil wurde gegen Abu Bakir M., geboren 1991 in der Stadt Mansoura Ägypten, verhängt - eine Scheinidentität. Sein wahrer Name, Bilel A., geboren 1990 im tunesischen Bizerte, taucht in dem Urteil nur als Aliasname auf.
A. hatte gestanden, am 12. Februar 2016 in einer Karstadt-Filiale in Berlin-Spandau (Carl-Schurz-Straße 20, G. P.) mehrere T-Shirts, Jacken und eine Jeans gestohlen zu haben. Er führte Pfefferspray, eine Nagelzange und Nagelknipser bei sich - somit machte sich der Mann nach Ansicht des Gerichts des Diebstahls mit Waffen schuldig.“ (3)
In der Urteilsbegründung hieß es: „Es ist davon auszugehen, dass sich der Angeklagte die Verurteilung allein, ohne deren Vollstreckung, wird zur Warnung dienen lassen und zukünftig keine Straftaten mehr begehen wird.“ (4)
- Angebliche Sprengstoffbeschaffung 2015
Bilel Ben Ammar galt als Sympathisant des Islamischen Staates. Im Juni 2015 postete er unter seinem Decknamen „Ahmed Hassan“ mehrere radikale Sprüche, die seine Sympathie zum Islamischen Staat zum Ausdruck brachten, gleichzeitig soll er über „Facebook“ einen Treueeid abgegeben haben. In Berlin soll er zeitweise als Vorbeter aufgetreten sein.
In seiner Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Siemensstadt stellte Bilel Ben Ammar am 13. September 2016 mit Kindern Hinrichtungen nach und hielt die Szene im Video fest. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes zeigt das Video einen syrischen Jugendlichen, der an Händen und Füßen gefesselt auf dem Boden liegt und von einem Kleinkind mit einem Plastikschwert geschlagen wird. Ben Ammar verglich dies mit der Folterung von Muslimen in Burma und forderte das Kleinkind auf, zuzuschlagen. Im Vermerk des BKA heißt es weiter: „Danach forderte Ben Ammar das Kind auf, angsteinflößend zu brüllen und zeigte, wie man einen „gefangenen Kriminellen des Assad-Regimes“ befragt, bis dieser seine Verbrechen gesteht.“ Zuletzt habe er an dem Jugendlichen eine Enthauptung imitiert. (5)
Im Jahre 2015 hatten die Ermittler einen Hinweis erhalten, dass ein Kurierfahrer Sprengstoff nach Berlin befördern würde. Der Verdacht damals: Sprengstoff sollte in einem Auto von München zur Zwischenlagerung in die Seituna-Moschee in Charlottenburg (Sophie-Charlotten-Straße 31/32) gebracht werden. Danach sollte die Lieferung nach Dortmund gehen, um schließlich einen Anschlag in Düsseldorf zu verüben. (6) Daraufhin wurde Bilel Ben Ammar, der Kurierfahrer, der im Wedding wohnte, und ein Syrier, der in Britz wohnte, am 26. November 2015 vorläufig festgenommen. Bei den Hausdurchsuchungen stellte sich heraus, dass die fragliche Tasche nur Honig und Gewürzpaste enthielt.
- Beteiligung am Anschlag in Nizza 2016?
Während seines Asylverfahrens reiste er neunmal nach Frankreich, u. a. vom 7. bis 15. Juli 2016 nach Paris und Nizza. Nach Erkenntnissen des französischen Inlandsgeheimdienstes Direction générale de la sécurité intérieure (DGSI) war Bilel Ben Ammar am 14. Juli 2016 in Nizza, als dort der Frankotunesier Mohamed Salmene Lahouaiej Bouhlel mit einem Lkw durch die Menschenmassen auf der Uferstraße „Promenade des Anglais“ entlangraste und 86 Menschen tötete und rund 300 Menschen verletzte. So fanden die Ermittler vom BKA im März 2017 auf Ammars Handy eine Boardingkarte für den Flug EQVDGF1 von Berlin-Schönefeld nach Nizza am 7. Juli 2016, die auf den mutmaßlichen Alias-Namen „Mohamed Belaid Q.“ zugelassen war. (7) In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der marokkanische Sicherheitsdienst DGST nicht nur vor der Anschlagsgefahr durch Anis Amri gewarnt hatte, sondern auch vor einem Anschlag in Nizza. (8)
Unter den Todesopfern des Lkw-Anschlags befanden sich auch die Deutschlehrerin Saskia Sch. und die beiden Schülerinnen Şilan A. und Selma A. der 12. Klasse der Paul-Fürst-Gemeinschaftsschule in Berlin-Charlottenburg (Sybelstraße 21 bzw. Nehringstraße). Eine weitere deutsche Schülerin, Amal K., wurde vom Lkw überrollt und schwer verletzt: Sie erlitt Hirnblutungen, mehrere Brüche (dreimal Wirbelsäule, sechs Rippenbrüche, eine Schulterfraktur, zwei Beinbrüche), eine Kollabierung eines Lungenflügels, einen Armnerven-Abriss, Quetschungen, Hämatome und Platzwunden.
Gegen Bilel Ben Ammar selbst wurde in Berlin wegen eines angeblichen Anschlagsplans ermittelt. Angeblich wollte er in Nordafrika einen Sprengsatz beschaffen und ihn in die Hauptstadt schmuggeln, so der Verdacht. Im November 2015 gab es mehrere Razzien, auch in einem islamischen Kulturverein in Berlin-Charlottenburg. Eine Bombe wurde nicht gefunden, stattdessen nur Lebensmittel und Kosmetika. (9) Im Juni 2016 wurde dieses Ermittlungsverfahren eingestellt.
- Ermittlungsvorgang EISBÄR
Im Herbst 2015 tauchte sein Name im Umfeld von drei Tunesiern (Sabri Ben Hadef, Ahmed Jalleb und Sabou Saidani) auf, gegen die das BKA ermittelte. Deckname des BKA-Ermittlungsverfahrens: EV EISBÄR (EV EIBA); das Ermittlungsverfahren war im Oktober 2015 aus dem Gefahrenabwehrvorgang LACRIMA hervorgegangen. Der Generalbundesanwalt leitete die Ermittlungen (Aktenzeichen: GBA 2 BJs 119/15). Das Trio aus Sachsen und Berlin soll einen Anschlag mit einer bis zu 25 Kilogramm schweren Bombe geplant haben, um „die Säulen der Bundesrepublik zu zerstören“. Bei den Durchsuchungen im September und Oktober oder November 2015 in Leipzig, Dresden, Berlin, Riesa und Meißen kam sogar die GSG9 zum Einsatz. Beweise für die Pläne fanden sich nicht und so wurde das Verfahren bald eingestellt. Im Zuge der Telekommunikationsüberwachung stießen die Behörden auch auf Bilel Ben Ammar, der als „Nachrichtenmittler“ eingestuft wurde. Gleichzeitig stieß man auf einen gewissen „Anis“, den man zunächst nicht identifizieren konnte. Er wurde als „Kontaktperson einer Kontaktperson“ klassifiziert.
Die Bundesregierung verweigert bis heute weitere Auskünfte zu der Verwicklung des Anis Ben Othman Amri oder des Bilel Ben Ammar in den Ermittlungsvorgang EISBÄR. So erklärte die damalige Staatssekretärin im Bundesinnenministerium Dr. Emily Margarethe Haber auf eine entsprechende parlamentarische Anfrage am 9. Februar 2017:
„Bezüge des ehemals Beschuldigten Anis Amri zu anderen in Deutschland aufhältigen Personen, insbesondere zu möglichen Unterstützern oder Mitwissern, sowie mögliche Verbindungen zu anderen Ermittlungsverfahren sind zentraler Gegenstand der laufenden Ermittlungen. Weitere Auskünfte müssen im Hinblick auf die noch laufenden Ermittlungen unterbleiben. Trotz ihrer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Pflicht, Informationsansprüche des Deutschen Bundestages zu erfüllen, tritt hier nach sorgfältiger Abwägung der betroffenen Belange im Einzelfall das Informationsinteresse des Parlaments hinter das berechtigte Geheimhaltungsinteresse zurück. Eine Auskunft zu Erkenntnissen aus dem Ermittlungsverfahren würde konkret weitergehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln, weshalb aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit folgt, dass das betroffene Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und Strafverfolgung (vgl. dazu BVerfGE 51, 324, 343 f.) hier Vorrang vor dem Informationsinteresse hat.“(11)
- Kontakte zu Anis Amri
Außerdem soll Bilel Ben Ammar – zusammen mit Habib Selim - den späteren Attentäter Anis Ben Othman Amri bei dessen Einreise im Juli 2015 begleitet haben, wie es in einem „Behördenzeugnis“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz hieß. (12) Gelegentlich übernachtete Anis Amri bei Ben Ammar in der Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Siemensstadt. Außerdem unterhielt Bilel Ben Ammar seit Sommer 2015 Kontakte mit Habib Selim.
Am 11. November 2016 fragte die Bundespolizei beim Polizeipräsidium in Berlin nach, ob Bilel Ben Ammar weiterhin in der Grenzfahndung verblieben solle. Am 14. November erging eine Anweisung des Referats 541 der Staatsschutzabteilung des LKA Berlin an die Bundespolizei, die laufenden Grenzfahndung gegen Bilel Ben Ammar einzustellen. Dem kam die Bundespolizei am 26. November 2016 nach. (13) Diese Löschung muss überraschen, da Bilel Ben Ammar nur einen Monat zum „Gefährder“ erklärt wurde.
Am Abend des 18. Dezember 2016, einen Tag vor dessen Anschlag auf den „City Weihnachtsmarkt“ auf dem Breitscheidplatz, traf sich Bilel Ben Ammar um 21.08 Uhr zu einem Abendessen und einem angeregten Gespräch mit dem Attentäter Anis Amri in dem Restaurant „Ya Hala Chicken“ im Ortsteil Gesundbrunnen (Pankstraße 51). Ein Mitarbeiter des Restaurants berichtete laut einem Vermerk des Bundeskriminalamtes, Amri und Ben Ammar hätten bei dem Treffen so gewirkt, „als wollten sie etwas verstecken oder verheimlichen“. (14)
Am Mittag des nächsten Tags telefonierten beide ein letztes Mal um 14.30 Uhr miteinander. Zum Zeitpunkt des Attentats soll sich Bilel Ben Ammar in der Nähe des Breitscheidplatzes aufgehalten haben, wie eine Funkzellenanalyse ergab.
- Angriff auf Sascha Hüsges?
Am 22. Februar 2019 wurde durch den „Focus“ bekannt, dass Bilel Ben Ammar am 19. Dezember auf dem Breitscheidplatz und zumindest mittelbar am Anschlag beteiligt gewesen sein soll. Josef Hufelschulte und Alexander-Georg Rackow berichteten am 22. Februar 2019:
„Eine auf einem Hochhaus am Breitscheidplatz montierte Kamera (möglicherweise handelt es sich dabei um einen Filmmitschnitt, der vom „Europa-Center“ aufgenommen wurde, eine 12-Sekunden-Frequenz wurde später in der ARD-Sendung „Kontraste“ im März 2018 veröffentlicht, G. P.) filmte nach FOCUS-Informationen, wie Amri nach der Todesfahrt aus dem Lkw ausstieg und das Weite suchte. In diesem Moment zeigt der bislang unter Verschluss gehaltene Film auch, wie eine Person mit dem Aussehen von Ben Ammar einem Mann mit einem Kantholz seitlich an den Kopf schlägt, um dem flüchtenden Amri den Weg freizumachen.
Der attackierte Mann liegt bis heute im Koma. Zwei Stunden nach dem Attentat fotografierte Ben Ammar den verwüsteten Weihnachtsmarkt und schickte die Fotos an eine bislang nicht identifizierte Rufnummer.“
Bei dem Terroropfer handelt es sich um Sascha Hüsges. Zu seinem Fall führte die „Süddeutsche Zeitung“ später aus:
„Ein Zeuge hatte am Abend des Anschlags beklagt, dass ihn in unmittelbarer Nähe zu Amris stehen gebliebenem Lastwagen jemand aufgefordert habe wegzugehen. Dann habe er einen Schlag erlitten, „mit einem stumpfen Gegenstand an der Schläfe“. Aufgrund seiner Verletzungen wurde der Zeuge am Abend in ein künstliches Koma versetzt. Bis heute ist er nicht aufgewacht.“ (15)
Hüsges war nach dem Anschlag erst nach Hause gegangen. Als sich sein Zustand durch eine Gehirnblutung verschlimmerte, rief man den Rettungsdienst. Die Sanitäter notierten im Einsatzprotokoll: „Patient war auf dem Weihnachtsmarkt und hat einen starken Schlag von Passanten abbekommen.“ (16) Am 24. Januar 2017 wurden seitens der Ermittlungsbehörden Rechtsmediziner der Charité in den Fall eingeschaltet. Sie prüften, ob die Verletzung von einem Sturz stammen konnte. In Vermerken vom 24. und vom 27. Januar 2017 hielten die Mediziner fest, dass es keine Verletzungen an Armen und Beinen gegeben habe, die auf einen Sturz hindeuteten. In einem Beschluss vermerkte der Bundesgerichtshof am 16. Februar 2017, seitens der Bundesanwaltschaft bestehe der Verdacht, dass Hüsges „mit einem stumpfen Gegenstand an der Schläfe verletzt wurde, um Amri die Flucht zu ermöglichen“. (17)
Erst im Mai 2017 begann ein Hauptkommissar des Bundeskriminalamtes, die Sachlage in den Fallakten umzuschreiben. Er hielt fest, dass das Ergebnis der rechtsmedizinischen Stellungnahmen „den Schluss zulasse“, dass es „eher unwahrscheinlich“ sei, dass die Verletzung „durch Fremdeinwirkung“ entstanden sei. Trotz der fehlenden Sturzverletzungen, könne davon ausgegangen werden, „dass der Geschädigte sich die Verletzung in Folge eines Sturzes zugezogen hat“. (18) Ob hier ein weiterer Fall einer nachträglichen Aktenmanipulation vorliegt, sei dahingestellt. Am 7. Dezember 2017 schrieb ein Bundesanwalt an den Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof, die „genaue Herkunft der Verletzung“ sei unklar. Der Jurist philosophierte über physikalische Massenträgheit, womöglich sei die Verletzung von „auf unbekannte Weise beschleunigten Marktteilen“ verursacht worden.
So gibt es über den Ursprung seiner Verletzung zwei widersprüchliche Darstellungen: Nach der einen Version wurde Sascha Hüsges kurz nach dem Anschlag von jemandem (Bilel Ben Ammar?) niedergeschlagen, nach der anderen Version eilte er nach dem Anschlag den Opfern zu Hilfe und wurde von einem Holzbalken einer einstürzenden Glühweinbude am Kopf getroffen. Diese Version stammt möglicherweise von seinem Lebensgefährten Hartmut Hüsges und beruhte auf dessen spontaner Annahme, woher die Verletzung stammen könnte.
Sascha Hüsges ist mittlerweile aus dem Koma erwacht, er kann aber zwei Jahre nach dem Anschlag immer noch nicht sprechen oder essen und ist zum Pflegefall geworden. Die medizinische Diagnose lautet „Minimally Conscious State“. Im April 2018 wurde er nach Hause verlegt.
- Videos und Fotos vom Tatort Breitscheidplatz
Die Ermittler fanden auf dem Handy von Ben Ammar, dass sie im Januar 2017 beschlagnahmte, ältere Fotos und Videos vom Breitscheidplatz. (24) Diese Aufnahmen stammten vom 6. Februar 2016 und vom 11. März 2016. In einem Vermerk der Bundesanwaltschaft hieß es dazu: „Bei den am 6. Februar 2016 gefertigten Bildern fällt auf, dass sie den späteren Anschlagsort zeigen und weniger auf Gebäude als auf die Straße und Begrenzungspoller gerichtet sind.“ Und das BKA stellte in einem Vermerk zu den Aufnahmen fest, dass „erste Bilder des Breitscheidplatzes von Februar und März 2016 den späteren Einfahrtsbereich des Tatfahrzeuges ablichten, was vor dem Hintergrund des Anschlaggeschehens den Eindruck einer Ausspähung erweckt.“ (25) In einer polizeilichen Vernehmung erklärte Bilel Ben Ammar, er habe die Fotos nicht gemacht, sie seien ihm zugeschickt worden.
Und in einer amtlichen „Zwischenauswertung“ hieß es:
„Im Ergebnis der Auswertung der Bilder mit Bezug zum Breitscheidplatz kann festgestellt werden, dass BEN AMMAR sich bereits in der ersten Jahreshälfte 2016 für die Örtlichkeit zu interessieren schien, wobei die gefertigten Bilder von den sonstigen, auf dem Mobiltelefon des BEN AMMAR festgehaltenen Bilddateien abweichen. So lassen sich im zeitlichen Zusammenhang mit Ausnahme von Lichtbildern, die den Potsdamer Platz zeigen, keine ähnlichen Aufnahmen von Berliner Örtlichkeiten feststellen. Bereits zu Beginn des Jahres 2016 wurden Fotos gefertigt, die aufgrund des speziellen Blickwinkels des Fotografen und den dargestellten örtlichen Bereichen den Anschein erwecken, dass hier möglicherweise der spätere Anschlagsort aufgeklärt wurde. Dafür spricht, dass die Örtlichkeit „Breitscheidplatz“ unter Vernachlässigung der eigentlichen Sehenswürdigkeiten fotographiert wurde, mit Augenmerk auf den Standort des späteren Weihnachtsmarktes und auf eventuelle, für die spätere Tatbegehung geeignete Schwachpunkte (fehlende Poller, Absperrung). Am 11.03.2016 wurde Fotos vom späteren Tatort und ein „Selfie“ des BEN AMMAR mit …“ (27)
Auf dem Handy von Ben Ammar fanden sich keine Fotos vom Breitscheidplatz am Abend des Anschlags, die er dort selbst gemacht hätte. Die vier sichergestellten Aufnahmen vom Abend des Anschlags stammten alle aus offenen Quellen: „Facebook“, „Twitter“ und ein Pressedienst. (22)
Außerdem wurde ein Pressefoto vom Anschlagsort und Abend veröffentlicht, dass eine unbekannte Person zeigte, die augenscheinlich große Ähnlichkeit mit Bilel Ben Ammar hatte. (21)
In einem Video vom Tatort, das in den Abendstunden gegen 21.30 Uhr aufgenommen wurde und wegen der Dunkelheit nur schlecht zu erkennen ist, ist ein Mann mit blau scheinenden Gummi-Handschuhen, Mütze, „Adidas“-Hose und blauem Rucksack zu sehen, der Bilel Ben Ammar auffallend ähnlich sah, dessen Identität aber bisher nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte. (19) Er wurde von den anwesenden Polizeibeamten, Feuerwehrleuten und Sanitätern nicht des Ortes verwiesen. Das BKA prüfte das Video. In einem am 29. Januar 2017 erstellten Vermerk kam die Behörde zum Ergebnis, „dass es weder bestätigt noch ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei der Person mit den blauen Handschuhen und Ben Ammar um ein- und dieselbe Person handelt“. (20) Von offizieller Seite hieß es im Nachhinein, es handelte sich um einen Ersthelfer, daher die Latex-Handschuhe. Allerdings verhielt sich dieser „Ersthelfer“ rein passiv, beobachtete die Szenerie, leistete keine Ersthilfe.
Außerdem fanden die Ermittler auf dem Handy ein einzelnes Foto vom Weihnachtsmarkt in Berlin-Spandau, das Bilel Ben Ammar vermutlich am Nachmittag des 19. Dezember 2016, also wenige Stunden vor dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin-Charlottenburg, gemacht hatte. (26)
- Tatbeteiligung am Breitscheid-Anschlag?
In den Tagen nach dem Anschlag tauchte Bilel Ben Ammar unter. Wo er in dieser Zeit abgeblieben ist, wurde nicht bekannt. Erst am 29. Dezember 2016 tauchte er in seiner Flüchtlingsunterkunft wieder auf.
Am 24. Dezember 2016 stuften die Sicherheitsbehörden Bilel Ben Ammar als „Gefährder“ ein. (23)
Am 29. Dezember 2016 leitete die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ein Ermittlungsverfahren gegen Bilel Ben Ammar ein. Offenbar gab es Gründe, die für seine mögliche Beteiligung am Anschlag auf den Breitscheidplatz sprachen. (28)
Am 3. Januar 2017 führte das Bundeskriminalamt - im Rahmen der Ermittlungen zum Terroranschlag vom 19. Dezember 2016 gegen den „City Weihnachtsmarkt“ - bei ihm eine Hausdurchsuchung durch und nahm Bilel Ben Ammar fest. Er wurde in der JVA Berlin-Moabit inhaftiert.
Am 4. Januar 2017 wurde ein Haftbefehl wegen des Verdachts auf Sozialbetrug gegen Bilel Ben Ammar erlassen. Dieser bestritt jegliche Kenntnis von den Anschlagsplänen. Bei der Auswertung seines Handys fanden die BKA-Spezialisten einen Treueeid zum Islamischen Staat und Belege für zahlreiche telefonische Kontakte zu Anis Amri.
Am 20. Januar hieß es in einem Vermerk des Bundeskriminalamtes, die bisherigen Erkenntnisse „können eine Tatbeteiligung und/oder ein Mitwissen im Zusammenhang mit dem LKW-Angriff am Breitscheidplatz vom 19.12.2016 bisher weder bestätigen noch ausschließen“. Außerdem stellte das BKA in seinem Vermerk fest: „Es bleibt zu vermuten, dass Bilel Ben Ammar von dem Vorhaben des Amri gewusst hat.“ (29)
Dazu erklärte später die Bundesanwaltschaft am 4. Dezember 2017:
„Nach den bisherigen Erkenntnissen kannten sich Amri und der Beschuldigte spätestens seit Ende 2015. Aufgrund eines Hinweises konnte rekonstruiert werden, dass beide sich noch am Vorabend des Anschlagstages, am 18. Dezember 2016, gegen 21:00 Uhr in einem Restaurant in Berlin-Mitte, Ortsteil Gesundbrunnen, getroffen und intensiv unterhalten haben. Vor diesem Hintergrund ergab sich der Verdacht, dass der Beschuldigte in die Tat eingebunden gewesen sein könnte, zumindest aber von Anschlagsplänen Amris gewusst haben könnte. Bei der Durchsuchung wurden unter anderem Kommunikationsmittel sichergestellt, die derzeit ausgewertet werden. Die gegen den Beschuldigten bestehenden Verdachtsmomente reichen derzeit nicht für einen dringenden Tatverdacht aus. Die Bundesanwaltschaft hat gegen ihn daher keinen Haftbefehl beantragt. Allerdings wurde der Beschuldigte gestern in einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Berlin vorläufig festgenommen und heute dem dortigen Ermittlungsrichter vorgeführt, der Haftbefehl erlassen und den Vollzug der Untersuchungshaft angeordnet hat.“ (30)
Im Verlauf des Januars 2017 wurden Bilel Ben Ammar zweimal von der Polizei verhört. Aber die Vernehmungen hätten keine Ansatzpunkte dafür ergeben, „dass er zur weiteren Aufklärung des Anschlags hätte beitragen können oder wollen,“ erklärte im Februar 2019 Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). (33)
Am 20. Januar 2017 berichteten die „Westfälischen Nachrichten“ (Münster), dass Ammars Asylantrag abgelehnt worden war, damit wurde er von den Behörden zugleich als „ausreisepflichtig“ eingestuft.
„Dem 26-jährigen Bilel A., der seit Ende 2015 mit Amri in Kontakt stand, wurde nach vorliegenden Informationen schon kurz nach seiner Festnahme in der Justizvollzugsanstalt Moabit in Gegenwart eines Dolmetschers und eines Psychologen der negative Asylbescheid mit Ausreiseaufforderung und Abschiebeandrohung übergeben. Bilel A., ein mehrfach verurteilter Krimineller mit etlichen Aliasnamen, soll sich dabei nach den Möglichkeiten einer freiwilligen Ausreise erkundigt haben.“ (34)
Ende Januar 2017, drei Tage vor der geplanten Abschiebung, stufte das BKA Bilel Ben Ammar als potentiellen Mitwisser ein, wie Hufelschulte und Rackow am 2. März 2019 im „Focus“ berichteten:
„Zudem wurde er bei einem gemeinsamen Treffen mit AMRI in einem Restaurant am Vorabend des Anschlages festgestellt. Es ist naheliegend, dass AMRI seinen Entschluss zur Begehung des Anschlages zu diesem Zeitpunkt bereits gefasst hatte. Unter Berücksichtigung des engen freundschaftlichen Verhältnisses der beiden Personen, das sich aus dem regelmäßigen telefonischen Kontakt ableiten lässt, ist es denkbar, dass BEN AMMAR Kenntnis über den geplanten Anschlag besaß oder in die Planung und spätere Flucht des AMRI eingebunden war.“
Noch am 1. Februar 2017 hieß es in einem Vermerk eines BKA-Beamten, Amri habe in Bilel Ben Ammar einen Glaubensbruder gesehen: „Es bleibt zu vermuten, dass Bilel Ben Ammar von dem Vorhaben des Amri gewusst hat.“
Am 16. Februar 2017 kam der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof zu der Erkenntnis, das Bilel Ben Ammar womöglich an dem Anschlag beteiligt war.
Am 19. Oktober 2017, also ein dreiviertel Jahr nach seiner Abschiebung, wurden die polizeilichen Ermittlungen gegen Bilel Ben Ammar eingestellt. Jedoch ließ sich bisher nicht gerichtsfest beweisen, dass er in die Pläne eingeweiht war. (39)
- Abschiebung
In einer amtlichen E-Mail des Bundesinnenministeriums an die Bundespolizei hieß es: „Bei der Person handelt es sich um die Kontaktperson von Anis AMRI, welcher er am Abend vor seinem Anschlag in Berlin getroffen hat. Seitens der Sicherheitsbehörden und des Bundesinnenministeriums besteht ein erhebliches Interesse daran, dass die Abschiebung erfolgreich verlaufen soll. Es liegen bereits erste Presseberichte (gemeint sind die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Westfälischen Nachrichten“, G. P.) über eine mögliche Abschiebung vor."
Am 13. Januar 2017 erteilte der Generalbundesanwalt seine Zustimmung für eine Abschiebung.
Am 16. Januar 2017 verfasste ein Beamter des Bundesinnenministeriums ein Schreiben an die damalige BIM-Staatssekretärin und heutige US-Botschafterin in Washington (seit 22. Juni 2018), Dr. Emily Margarethe Haber. Darin hieß es, dass Ben Ammar möglichst bald abgeschoben werden sollte. Der Beamte zitierte Innenstaatssekretär Hans-Georg Engelke, indem er schrieb: „Das Verhetzungspotential (ein Begriff von Herrn Engelke, den ich sehr treffend finde) in dem Sachverhalt ist wieder enorm, allein schon wegen seiner 12 Aliasse“. (31)
Vom 19. Januar 2017 stammt eine Mail, mit der sich Staatssekretärin Haber persönlich über die Bemühungen zur Abschiebung informieren ließ. Sie zeigte, dass die Behörden die Abschiebung vorantreiben wollten – und zwar unter allen Umständen. Die Vorwürfe Tunesiens gegen ihren Staatsbürger Bilel Ben Ammar in anderen Strafverfahren seien „nicht besonders schwer (...), so dass vielleicht nicht unbedingt eine Todesstrafe droht“, heißt es darin. (32)
Am 24. Januar 2017 teilte der Bundespolizeipräsident Dieter Romann in der ND-Lage im Kanzleramt den anwesenden mit, dass Bilel Ben Ammar in den kommenden Tagen abgeschoben werde. Dazu berichteten Josef Hufelschulte und Alexander-Georg Rackow am 23. Februar 2019 im „Focus“:
„Die damalige Innenstaatssekretärin Emily Haber, heute Botschafterin in den USA, zwei Abteilungsleiter und die Chefs von Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt bekamen keine schlüssigen Erklärungen. Stattdessen hieß es, die Bundesanwaltschaft habe Ben Ammar „ausgeleuchtet“.“
Am 25. Januar 2017 traf sich die damalige BIM-Staatssekretärin Emily Margarethe Haber mit dem tunesischen Botschafter, schon einen Tag später lag ein Passersatzpapier für Bilel Ben Ammar bereit. (35)
Am 1. Februar 2017 wurde Bilel Ben Ammar – auf Drängen der Bundesregierung – durch die Berliner Landespolizei aus der JVA in einer Nacht-und-Nebel-Aktion befreit, obwohl er erst im November 2016 zu einer siebenmonatigen Haftstrafe verurteilt worden war. Die Bundespolizei schob ihn über den Flughafen Frankfurt mit einem Passagierflugzeug, das gegen 9.30 Uhr startete, in sein Heimatland ab, so dass er für weitere Befragungen nicht mehr zur Verfügung stand. (36)
Am 3. Juli 2017 behauptete Bundesanwalt Thomas Beck vor dem Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung (InnSichO) des Berliner Abgeordnetenhauses:
„Ben Ammar befand sich vom 4. Januar bis zum 1. Februar in einem von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin geführten Verfahren wegen des Vorwurfs des gewerbsmäßigen Betruges in Untersuchungshaft. Am 1. Februar 2017 wurde er nach Tunesien abgeschoben. Wir haben dazu unser Einverständnis erteilt, da der Tatverdacht gegen ihn nicht erhärtet werden konnte und die Voraussetzungen eines Haftbefehls in unserem Zuständigkeitsbereich nicht vorlagen. Das Ermittlungsverfahren ist formal noch anhängig, wird aber voraussichtlich einzustellen sein, wenn weitere Erkenntnisse nicht hinzukommen.
Die Ermittlungen haben bisher keine belastbaren Hinweise dafür ergeben, dass Amri im Inland Mittäter oder Gehilfen hatte.“ (37)
Ammars Verteidiger Ralf-Peter Fiedler wunderte sich über die Abschiebung seines Mandanten: „(W)enn jetzt gegen ihn sogar wegen Mordes ermittelt wurde, warum schiebt man ihn dann ab? Aus einer Stadt, die doch stolz darauf ist, dass überhaupt nicht abgeschoben wird?“
Der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) sieht in der überhasteten Abschiebung von Bilel Ben Ammar einen geheimdienstlichen Vertuschungsversuch:
„Hier werden, wie in vielen anderen Fällen in den vergangenen Jahren, die Quellenlagen und Interessen der Dienste über die Aufklärung des Geschehens gestellt. Für mich ist zum Beispiel unerklärlich, dass Ben Ammar, der eng an Amri dran war, am Abend vorher mit Amri in einem Restaurant gestritten hat, der selbst verdächtigt wird, Mitglied des IS zu sein, der auf seinem Handy Aufnahmen vom Breitscheidplatz hatte, dass der – bevor die Tat vollständig aufgeklärt ist – abgeschoben wird und heute verschwunden ist. Das sind unerklärliche Vorgänge, für die das Bundesinnenministerium die Verantwortung trägt.“ (40)
Der Berliner Landtagsabgeordnete Marcel Luthe (FDP), Mitglied des Berliner Untersuchungsausschusses, vermutet: „Ben Ammar sollte als Zeuge weder den Ermittlern noch dem Parlament zur Verfügung stehen.“
Die tunesischen Behörden erklärten, sie wollten Ammar wegen „Zugehörigkeit zu einer terroristischen Gruppe“ anklagen, aber diesbezüglich ist bisher nichts passiert bzw. bekannt geworden. (41)
In ähnlicher Weise wurde auch der Zimmergenosse von Anis Amri in der Freienwalder Straße 30, Khaled A., am 22. Februar 2017 nach Tunesien abgeschoben. (38) Allerdings wurde dieser Fall in der Öffentlichkeit kaum beachtet.
- Agententätigkeit für DGST?
Erst am 22. Februar 2019, also mehr als zwei Jahre nach dem Anschlag, wurde bekannt, dass Bilel Ben Ammar ein Agent des marokkanischen Geheimdienstes Direction générale de la surveillance du territoire (DGST, arab. Bez.: Mudīriyyat Murāqabat at-Turāb al-Waṭanī), der seit 2005 vom Polizeichef Abdellatif Hammouchi geleitet wird, gewesen sein soll, wie Josef Hufelschulte und Alexander-Georg Rackow am 22. Februar 2019 im „Focus“ berichteten:
„Der radikale Islamist Bilel Ben Ammar sei offensichtlich ein Agent des marokkanischen Geheimdienstes, der per Abschiebung vor einer Strafverfolgung in Deutschland geschützt werden sollte. Der nordafrikanische Nachrichtendienst DGST hatte das Bundeskriminalamt und den Bundesnachrichtendienst mehrfach über die Radikalisierung von Anis Amri und dessen Anschlagsplänen gewarnt.“
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der DGST viermal (19. September und am 11., 14. und 26. Oktober 2016) die marokkanische Dependance des Bundesnachrichtendienstes und den lokalen Vertreter des Bundeskriminalamtes (BKA-VB Rabat) vor den Umtrieben von Anis Ben Othman Amri gewarnt hatte. Außerdem warnte der DGST im Oktober 2016 das LKA Berlin vor Amris Vermieter Kamel A. und vor Toufik N., einem Mitbewohner von Anis Amri. Vielleicht ist das von Bedeutung, dass die Informationen vom internen Sicherheitsdienst und nicht vom marokkanischen Auslandsnachrichtendienst Direction Générale de études et de la documentation (DGED) kamen.
Im dem „Focus“-Artikel unterließen es die beiden Autoren Josef Hufelschulte und Alexander Rackow, irgendwelche Quellen für ihre Behauptungen zu enthüllen, so dass der WDR-Journalist Florian Flade davon sprach, dass seinen „ganz schön steile Thesen“. (42) Eine Woche wiederholten die beiden Autoren lediglich ihre Behauptung, ohne die Kritik aufzunehmen: „Bilel Ben Ammar, dies wurde vergangene Woche nochmals in Sicherheitskreisen bestätigt, war für den marokkanischen Geheimdienst tätig.“ Immerhin ist Josef Hufelschulte seit Jahrzehnten der Fachjournalist des „Focus“ für Sicherheitsthemen mit engen Verbindungen zu Mitarbeitern der deutschen Sicherheitsdienste, zumal er zeitweise selbst als ein Zuträger des Bundesnachrichtendienstes (Deckname: JEREZ) agierte. Man darf unterstellen, dass die Autoren wussten, wovon sie schrieben, und mehr wissen, als sie schreiben. Über die Reaktionen auf ihre Veröffentlichung schrieben die beiden Autoren selbst eine Woche später im „Focus“:
„Im Bundesinnenministerium, sagt ein hoher Regierungsbeamter, habe es gleich nach der ersten FOCUS-Vorabmeldung zur Causa Ben Ammar am vorvergangenen Freitagmorgen „ein Erdbeben gegeben“. Insbesondere Ministerialdirektor Stefan Kaller, Seehofers verantwortlicher Mann für die öffentliche Sicherheit, habe sich „wie Rumpelstilzchen“ verhalten.“
Stefan Kaller ist Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit (ÖS). Ihm sind u.a. das Referat ÖS I 2 Terrorismusbekämpfung; Verfassungsschutz unter Leitung von Ministerialrat Dietmar Marscholleck, die Arbeitsgruppe ÖS II 2 Internationaler Terrorismus und Extremismus, Personenschutz unter Leitung von Regierungsdirektor Koch und die Projektgruppe Untersuchungsausschuss Anschlag Breitscheidplatz unter Führung von Dr. Vogel nachgeordnet.
Demgegenüber erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer im Februar 2019, weder dem Bundeskriminalamt, noch dem Bundesamt für Verfassungsschutz oder dem deutschen Auslandsgeheimdienst BND sei bekannt, ob Ammar „für oder mit“ einem marokkanischen Nachrichtendienst gearbeitet habe. (43) Angesichts der bevorstehenden Presseenthüllungen hatte Seehofer Mitte Februar 2019 sein Ministerium angewiesen, einen Bericht zu der Frage anzufertigen, ob Anis Ben Othman Amri ein Einzeltäter war oder nicht. Der an die Medien weitergereichte Bericht hatte einen Umfang von 13 Seiten und sollte die Gerüchte in der Presse zerstreuen. (44)
- Zeuge im BT-UA?
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages bemüht sich Bilel Ben Ammar nach Deutschland zurückzuholen, damit er als Zeuge aussagen kann. Er ist „eine Schlüsselfigur im Fall Amri“, erklärte dazu der Abgeordnete Benjamin Strasser (FDP). (45) Allerdings sei sein derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt. Zur Jahreswende 2018/19 erklärte das Bundesinnenministerium (BMI) gegenüber den Opfern, die Bundesregierung versuche, dass Ben Ammar auf „freiwilliger Basis“ nach Deutschland zurückkehre und im Untersuchungsausschuss als Zeuge aussage. Die deutsche Botschaft in Tunesien verhandelte damals darüber mit den tunesischen Behörden. Anscheinend war sein Aufenthaltsort also doch bekannt. Dennoch behauptete Bundesinnenminister Horst Seehofer am 28. Februar 2019: „Mir ist momentan der Aufenthalt nicht bekannt.“ (46) Zur Rechtfertigung der früheren Behördenentscheidungen faselte Seehofer etwas von einer „Güterabwägung“. (47)
Sollte sich Bilel Ben Ammar eines Tages bereiterklären, vor dem BT-Untersuchungsausschuss auszusagen, müsste ihm die Bundesregierung bzw. ein zuständiges Gericht gemäß § 295 StPO „sicheres Geleit“ bzw. Immunität zusichern. Andernfalls droht ihm wegen seiner möglichen Beteiligung am Anschlag eine lebenslange Freiheitsstrafe. Um diese „Probleme“ zu umgehen, gibt es Überlegungen, ihn in Tunesien per Video-Konferenz zu vernehmen.
Angela Merkel hatte vor zwei Jahren vollständige Aufklärung versprochen. Innerhalb des Kanzleramtes wäre dafür die Abteilung 7 Bundesnachrichtendienst / Koordinierung der Nachrichtendienste des Bundes unter Leitung von Dr. Bernhard Kotsch zuständig, ihm ist das Referat 714 Terrorismus; Extremismus; Organisierte Kriminalität; Krisenlagen unter der Leitung der Juristin und Regierungsdirektorin Dr. Dorothee Maurmann nachgeordnet. Nachdem nach und nach ein halbes Dutzend V-Leute im Umfeld von Anis Ben Othman Amri aufgedeckt wurden, kann von einer umfassenden Aufklärung nie mehr die Rede sein.
Immerhin musste der damals verantwortliche Bundesinnenminister Karl Ernst Thomas de Maizière (CDU) im März 2018 aus seinem Amt ausscheiden und seine politische Karriere nach dreißig Jahren beenden. Er fiel dem Personalkarussell des Parteienproporzes der Großen Koalition zum Opfer. In seinem Memoiren-Schinken „Regieren – Innenansichten der Politik“ (252 Seiten), den er im Februar 2019 veröffentlichte, ging er auf den Anschlag vom Breitscheidplatz und andere Terroranschläge während seiner Amtszeiten kaum ein. (48) Mehrere Verantwortliche wurden einfach befördert oder „weggelobt“ (so die damalige Chefin der Staatsschutzabteilung im LKA Berlin Jutta Porzucek oder der damalige Leiter des Dezernats 54 Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie – [Islamismus] Axel Bédé) oder zwangspensioniert (so der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen) oder sind seit Monaten krank gemeldet (so der Direktor des Berliner LKA Christian Steiof).
Willy Brandt ist schon wegen weniger als zwölf Leichen im Keller des Kanzleramtes zurückgetreten. Die Nachrichtendienste und Polizeibehörden haben alles unterlassen, um den Anschlag vom Breitscheidplatz zu verhindern. Die Frage, in welchem Umfang sie den Anschlag initiiert haben, muss offenbleiben. Wie sagte schon der frühere Bundesinnenminister de Maiziére im Zusammenhang mit einer Anschlagsdrohung 2015: „Ein Teil dieser Antwort würde die Bevölkerung verunsichern."
Quellen:
(1) www.bz-berlin.de/berlin/fahndung-nach-amri-freund-wurde-drei-wochen-vor-anschlag-beendet
(2) www.sueddeutsche.de/news/panorama/terrorismus-amris-moeglicher-kontaktmann-was
-wir-wissen---und-was-nicht-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-170105-99-763100
(3) www.spiegel.de/politik/deutschland/bilel-a-kontaktmann-von-anis-amri-unter-falschem-
namen-verurteilt-a-1128769.html
(4) www.spiegel.de/politik/deutschland/bilel-a-kontaktmann-von-anis-amri-unter-falschem-
namen-verurteilt-a-1128769.html
(5) www.tagesspiegel.de/politik/bilel-ben-ammar-amris-freund-stellte-in-asylbewerberheim
-is-hinrichtungen-nach/24030342.html
(6) www.morgenpost.de/berlin/article209168883/Anis-Amri-liess-sich-nach-Anschlag-am-
Bahnhof-Zoo-filmen.html
(7) www.n-tv.de/panorama/War-Amri-Freund-bei-Nizza-Anschlag-dabei-article20877097.html
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_den_Berliner_Weihnachtsmarkt_an_der_
Gedächtniskirche
(9) www.welt.de/politik/deutschland/article162024463/Wieviel-gefaehrlicher-muss-ein-
Gefaehrder-noch-sein.html
(10) www.welt.de/politik/deutschland/article162024463/Wieviel-gefaehrlicher-muss-ein-
Gefaehrder-noch-sein.html
(11) http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/112/1811220.pdf
(12) https://story.berliner-zeitung.de/akte-amri/
(13) www.bz-berlin.de/berlin/fahndung-nach-amri-freund-wurde-drei-wochen-vor-anschlag-beendet
(14) www.morgenpost.de/berlin/article216505063/Fall-Amri-Behoerden-koennten
-Mittaeter-geschuetzt-haben.html
(15) www.sueddeutsche.de/politik/amri-breitscheidplatz-1.4341394
(16) www.focus.de/politik/deutschland/unstimmigkeiten-bei-medizinischen-gutachten-neue-
panne-bei-ermittlungen-um-amri-vertrauten_id_10390357.html
(17) www.focus.de/politik/deutschland/unstimmigkeiten-bei-medizinischen-gutachten-neue-
panne-bei-ermittlungen-um-amri-vertrauten_id_10390357.html
(18) www.focus.de/politik/deutschland/unstimmigkeiten-bei-medizinischen-gutachten-neue-
panne-bei-ermittlungen-um-amri-vertrauten_id_10390357.html
(19) www.welt.de/politik/deutschland/article162024463/Wieviel-gefaehrlicher-muss-ein-
Gefaehrder-noch-sein.html
(20) www.morgenpost.de/berlin/article216505063/Fall-Amri-Behoerden-koennten-
Mittaeter-geschuetzt-haben.html
(21) www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Der-
Anschlag/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=48312570
(22) www.general-anzeiger-bonn.de/news/politik/deutschland/Fall-des-Amri-Helfers-Bilel-
Ben-Ammar-wirft-Fragen-auf-article4051001.html
(23) https://pbs.twimg.com/media/D0H_MmWWsAAqC_2.jpg
(24) https://pbs.twimg.com/media/D0IChfSW0AAaOsb.jpg
(25) www.morgenpost.de/berlin/article216505063/Fall-Amri-Behoerden-
koennten-Mittaeter-geschuetzt-haben.html
(26) www.morgenpost.de/bezirke/spandau/article216551995/Spaehte-Amri-Freund-den-
Spandauer-Weihnachtsmarkt-aus.html
(27) www.tagesspiegel.de/politik/breitscheidplatz-anschlag-seehofer-rechtfertigt-abschiebung
-von-amri-freund-ben-ammar/24050732.html
(28) www.tagesspiegel.de/politik/breitscheidplatz-anschlag-seehofer-rechtfertigt-abschiebung
-von-amri-freund-ben-ammar/24050732.html
(29) www.morgenpost.de/berlin/article216505063/Fall-Amri-Behoerden-koennten
-Mittaeter-geschuetzt-haben.html
(30) www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=19&newsid=664
(31) www.spiegel.de/politik/deutschland/horst-seehofer-bilal-ben-ammar-aufenthaltsort-
dem-innenministerium-unbekannt-a-1255612.html
(32) www.wn.de/Welt/Politik/2017/01/2668799-Attentaeter-galt-als-Auslaendischer-Kaempfer-
Steht-Amris-Kontaktmann-vor-der-Abschiebung
(33) www.spiegel.de/politik/deutschland/berlin-anis-amri-kontaktmann-nach-anschlag-als-
gefaehrder-eingestuft-a-1128608.html
(34) www.tagesspiegel.de/politik/bilel-ben-ammar-amris-freund-stellte-in-
asylbewerberheim-is-hinrichtungen-nach/24030342.html
(35) www.morgenpost.de/berlin/article216505063/Fall-Amri-Behoerden-koennten-
Mittaeter-geschuetzt-haben.html
(36) www.tagesspiegel.de/politik/breitscheidplatz-anschlag-seehofer-rechtfertigt-abschiebung-
von-amri-freund-ben-ammar/24050732.html
(37) www.morgenpost.de/politik/article209467759/Sachsen-schiebt-Kontaktperson-von-
Berlin-Attentaeter-Amri-ab.html
(38) www.parlament-berlin.de/ados/18/InnSichO/protokoll/iso18-010-wp.pdf
(39) www.taz.de/!5426096/
(40) www.spiegel.de/politik/ausland/anis-amri-tunesien-will-kontaktmann-anklagen-a-1132958.html
(41) www.parlament-berlin.de/ados/18/InnSichO/protokoll/iso18-010-wp.pdf
(42) www.sueddeutsche.de/politik/amri-breitscheidplatz-1.4341394
(43) www.general-anzeiger-bonn.de/news/politik/deutschland/Fall-des-Amri-Helfers-Bilel-
Ben-Ammar-wirft-Fragen-auf-article4051001.html
(44) www.maz-online.de/Nachrichten/Politik/Seehofer-weiss-fast-nichts-ueber-Amris-Freund
(45) www.sueddeutsche.de/politik/anschlag-auf-berliner-weihnachtsmarkt-anis-amris-
seltsamer-freund-1.4060344
(46) www.spiegel.de/politik/deutschland/horst-seehofer-bilal-ben-ammar-aufenthaltsort
-dem-innenministerium-unbekannt-a-1255612.html
(47) www.tagesspiegel.de/politik/breitscheidplatz-anschlag-seehofer-rechtfertigt-abschiebung
-von-amri-freund-ben-ammar/24050732.html
(48) https://www.sueddeutsche.de/politik/thomas-de-maiziere-regieren-1.4323131